Synthese
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Was ist das: Synthese?

Drei Experten geben kurze Einführungen in die Thematik „Synthese“. Prof. Klaus Mainzer betrachtet die Synthese als wissenschaftliche Methodik und erklärt welche Formen der Synthese die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen verwenden. Prof. Lisa Herzog stellt die Frage, ob sich der Hegelsche Dreischritt These-Antithese-Synthese dazu eignet, politische Prozesse zu verstehen. Auch Jun. Prof. Elena Ficara definiert Synthese in Bezugnahme auf die Philosophie Hegels und setzt sie in einen Vergleich mit Immanuel Kants Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori.

Antwort von Elena Ficara

Die Frage Was ist Hegels Dialektik? ist eine der dornigsten Fragen der Philosophiegeschichte. Sie hat für heftige Diskussionen unter Schülern, Freunden und Gegnern Hegels seit den letzten Jahren seiner akademischen Tätigkeit in Berlin gesorgt. Sie gilt heute noch als nicht vollständig beantwortet. Um auf eine einfache Art in die Synthesis-Problematik in Hegels Dialektik einzuleiten, schlage ich vor, zuerst zwei Beispiele zu betrachten.

In der kurzen Schrift Wer denkt abstrakt erzählt Hegel die Anekdote einer Hinrichtung: Ein Mörder wird zur Richtstätte geführt. Als eine Frau bemerkt, dass er ein schöner, interessanter, kräftiger Mann ist, sagt das Volk: Was, ein Mörder schön? Wie kann man so schlecht denkend sein und einen Mörder schön nennen! Für Hegel denkt die Frau dialektischer als das Volk, indem sie in der Lage ist, Eigenschaften, die sich prinzipiell ausschließen (das Böse-Sein und das Schön- und daher Gut-Sein), zusammenzudenken. Dadurch, dass sie nicht nur von der allgemein geteilten Annahme ausgeht, dass ein Mörder böse ist, sondern auch von der entgegengesetzten These, ist sie der Realität dieser Person näher und besser in der Lage, diese in ihrer Komplexität zu verstehen.

Am Anfang der Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie erörtert Hegel, dass wir daran gewöhnt sind, abstrakt zu denken, d. h. z. B. anzunehmen, dass Menschen entweder frei oder der Notwendigkeit unterworfen sind und es keine dritte Möglichkeit gibt. In Wahrheit aber setzt eine vollständige Kenntnis dessen, was es bedeutet, Mensch zu sein, voraus, dass wir beide Aspekte – Freisein und der Notwendigkeit unterworfen sein – vor Augen haben und zusammendenken. Sich nur an einen Aspekt zu halten, und den entgegengesetzten zu ignorieren, würde zu einer einseitigen Auffassung führen, die nicht in der Lage wäre, der Komplexität des Phänomens menschlicher Freiheit Rechnung zu tragen.

An beiden Beispielen wird ersichtlich, dass dialektisch zu denken impliziert, auf eine bestimmte Art und Weise Entgegengesetzte zu vereinigen bzw. zu „synthetisieren“.

In der Tradition der Dialektik, die sich auf Hegel beruft, spielt das Konzept der Synthese eine zentrale Rolle. Allerdings hat Hegel den Ausdruck „Synthese“ nur sporadisch und nicht im programmatischen Sinne benutzt. Es waren vielmehr seine deutschen, italienischen und französischen Interpreten (vgl. z. B. Benedetto Croce in Lebendiges und Totes in Hegels Philosophie, 1906), die die Ausdrücke „These“, „Antithese“ und „Synthese“ verwendeten, um dem Leser die drei Schritte dialektischer Entwicklungen vor Augen zu führen. Obwohl dieser Gebrauch nicht hegelianisch ist, ist er der Sache selbst nicht unangemessen. Dialektik entsteht in dem Moment, in dem wir über die Bedeutung dessen, was wir sagen, nachdenken. Sie impliziert in der Tat, dass wir eine erste These darüber formulieren, was etwas (z. B. der Mörder in dem ersten Beispiel oder die menschliche Freiheit in dem zweiten) ist, sie jedoch nicht einfach dogmatisch behaupten, sondern gleichzeitig auch ihre Negation berücksichtigen (die Antithese). Diese gleichzeitige Betrachtung der These und ihrer Negation ist die Vereinigung Entgegengesetzter, die Synthese.

In der Kantischen Philosophie ist der Ausdruck „Synthese“ omnipräsent. Ihm kommt in der Kritik der reinen Vernunft eine grundlegende Bedeutung zu: Die Philosophie selbst hat für Kant die Aufgabe, die Frage Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? zu stellen und zu beantworten; synthetische Leistungen sind gefragt zur Herstellung der Verbindung zwischen den zwei grundlegenden aber grundsätzlich verschiedenen Funktionen menschlicher Erkenntnis: Sinnlichkeit und Verstand. Für Kant sind die Apperzeption, die Kategorien, die Ideen sowie die Einbildungskraft „Funktionen der Synthesis“.

Hegel nennt die von der Synthesis-Funktion hervorgebrachten Verbindungen die schönste Seite und die echte dialektische Mitte der Kantischen Philosophie. Dennoch unterscheidet sich das Kantische Verständnis von Synthese vom Hegelschen. Kants Sprachgebrauch zufolge heißt „Synthetisieren“ verschiedene Elemente zusammenfügen. Hegels Auffassung ist demgegenüber radikaler und man könnte sagen paradoxal: Eine dialektische Synthese ist für Hegel immer eine Verbindung zwischen Elementen, die prinzipiell nicht verbunden werden können. Dies mag der Grund sein, weshalb Hegel statt „Synthese“ andere Ausdrücke bevorzugt wie z. B. Verbindung der Verbindung und der Nicht-Verbindung, Identität der Identität und der Nicht-Identität, Vereinigung, durch die die Elemente einer Antinomie vereinigt werden.

Die Frage, die sich stellt, ist: Wieso sollten wir solche Synthesen vollbringen, wieso sollten wir das zusammendenken was nicht zusammengedacht werden kann, wieso sollten wir paradoxal denken? Aus einer Hegelschen Perspektive ist die Antwort klar: Die dialektische Zusammenfügung von Kontradiktorischem ist der einzige Weg, den wir haben, um wahrheitsgemäß zu denken und die Wahrheit zu finden.

Antwort von Lisa Herzog

Es ist ein alter Traum, für politische Probleme Lösungen zu finden, die alle Seiten zufriedenstellen: Bei denen es nur Gewinner und keine Verlierer gibt, bei denen alle schlechten Vorschläge aussortiert und alle guten Vorschläge vereint werden. Der Begriff der Synthese meint Zusammensetzung und wird heute vor allem in der Naturwissenschaft verwendet. In der politischen Philosophie könnte er solche wunderbaren Lösungen beschreiben, bei denen man den Kuchen gleichzeitig aufessen und behalten kann.

Aber ist Synthese überhaupt ein sinnvoller Begriff, um über Politik nachzudenken?

Dem Klischee nach war es der deutsche Philosoph G.W.F. Hegel (1770–1831), der den Dreischritt These – Antithese – Synthese auf alle möglichen Gegenstandsbereiche anwendete, auch auf die Frage der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Demnach schreitet philosophisches Denken voran, indem es eine Behauptung aufstellt, dann ihre Gegenposition prüft, und abschließend die Synthese aus beiden zieht, die dann wiederum Ausgangspunkt für den nächsten solchen Dreischritt ist. Tatsächlich ist dies ein stark vereinfachtes Schema. Was Hegel mit dem Gedanken der Synthese meinte, lässt sich besser anhand seines Begriffs des Aufhebens verstehen. Aufheben hat im Deutschen eine Reihe von Bedeutungen: Auf ein höheres Niveau heben, bewahren, aber auch überwinden oder für nichtig erklären. Diese Elemente finden sich auch im Hegelschen Dreischritt: Bestimmte Positionen werden in der Synthese überwunden, wobei gleichzeitig das, was an ihnen wertvoll ist, bewahrt und auf ein höheres Niveau gehoben wird.

Um dies an einem Beispiel aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts zu illustrieren: Hegel unterscheidet die drei sozialen Bereiche Familie, bürgerliche Gesellschaft (gemeint ist das Wirtschaftsleben und seine Regulierung) und Staat (im Sinne des politischen Staates). Familie und bürgerliche Gesellschaft können nicht für sich alleine existieren; Vorstellungen davon, dass sie autonom wären,

müssen also überwunden werden. Die Formen des Soziallebens, die in Familie und bürgerlicher Gesellschaft stattfinden, sind aber wertvoll und dürfen vom Staat nicht vernichtet, sondern müssen bewahrt und in ihn eingebettet werden. Dadurch werden sie auf ein höheres Niveau gehoben, in dem Sinne, dass sie erst innerhalb des Staates ihr volles Potential entfalten.

Kann man politische Strukturen anhand eines derartigen Modells verstehen? Hegel ist bis heute ein umstrittener Theoretiker, der von manchen als reaktionär und von anderen als progressiv gelesen wird. Diese unterschiedlichen Deutungen lassen sich auch auf die Denkfigur der Aufhebung beziehen. Versteht man sie so, dass die bestehende soziale Wirklichkeit schon eine gelungene Synthese aus unterschiedlichen Elementen ist, und deswegen am besten bewahrt werden sollte, dann bekommt der Begriff etwas unangenehm Konservatives. Alle Fragen danach, ob die angebliche Synthese vielleicht auch schmerzhafte Kompromisse verlangt hat oder welche Interessenskonflikte weiter schwelen, werden dann im Namen der Synthese unterdrückt – es wird die Fiktion einer Einheit erzeugt, bei der es nur Gewinner und keine Verlierer gibt.

Die Alternative dazu ist, den Begriff der Aufhebung oder Synthese dynamischer zu verstehen. Politik besteht darin, immer wieder gemeinsam Lösungen zu finden, mit denen alle leben können – ohne damit die Tatsache zu leugnen, dass es in der Politik immer auch um unterschiedliche Werte und Interessen geht. Nach dieser Lesart ist eine Synthese nie ein endgültiger Schlusspunkt, sondern eine Zwischenstation in einem dynamischen Prozess. Selbst die besten Lösungen werden irgendwann von historischen Entwicklungen eingeholt, man muss auf neue Herausforderungen eingehen und neue Anpassungen vollziehen. Denn Menschen sind zeitliche Wesen, und Politik findet innerhalb geschichtlicher Abläufe statt. Manche gefundenen Synthesen müssen verteidigt werden, andere brauchen neue Antithesen. Dass man den Kuchen auf Dauer zugleich aufessen und behalten kann, ist in der Politik eine gefährliche Illusion.

Antwort von Klaus Mainzer

Synthese wird heute oft mit der chemischen Verbindung von Stoffen und Molekülen in Zusammenhang gebracht. Mittlerweile gibt es sogar eine synthetische Biologie, in der chemische Bausteine zu lebenden Zellen verbunden werden. Tatsächlich leitet sich das Wort vom Altgriechischen σύνθεσις sýnthesis für Zusammensetzung, Zusammenfassung und Verknüpfung ab, entspricht also dem Lateinischen constructio für Konstruktion. Wissenschaftlich wird Synthese seit der Antike als Methode zur Erkenntnisgewinnung verstanden. So beschäftigt sich die Euklidische Geometrie mit der Konstruktion von Figuren, die mit Zirkel und Lineal hergestellt, also aus den Grundfiguren von Kreisen und Geraden zusammengesetzt werden. Theoreme der Euklidischen Geometrie (z. B. Satz des Pythagoras) werden nach logischen Regeln Schritt für Schritt aus vorausgesetzten Axiomen abgeleitet. Die logischen Ableitungsschritte entsprechen Konstruktionsschritten von Figuren. Daher heißt diese Form der axiomatischen Geometrie synthetisch.

Auch in der Grundschule beginnen wir zunächst mit Figurenkonstruktionen. Dann lernen wir die analytische Geometrie kennen, in der Figuren in Mengen von Punkten „zerlegt“ (griech. ἀνάλυσις análysis Auflösung) werden. Das entspricht der analytischen Chemie, bei der zusammengesetzte Stoffe in ihre chemischen Einzelbestandteile zerlegt werden. In der analytischen Geometrie werden die Punkte durch Zahlenkoordinaten, also in der Ebene durch Zahlenpaare, festgelegt. Figuren entsprechen nun Lösungen von Gleichungen über Zahlen: Die Geometrie geht in Algebra über, und an die Stelle des Konstruierens tritt das Rechnen. Heute berechnen Computer blitzschnell Milliarden solcher Punkte in der Bildgebung nach Gleichungen und Programmen. Eingeleitet hat diese Entwicklung René Descartes (1596–1650), der als Mathematiker die analytische (cartesische) Geometrie begründete und als Philosoph eine universelle Methode der Erkenntnisgewinnung nach dem Vorbild der Algebra propagierte.

Als Methoden der Erkenntnisgewinnung gehören Synthese und Analyse zusammen. Bereits der griechische Mathematiker Pappos von Alexandreia (4. Jh. n. Chr.) unterscheidet Synthese und Analyse als sich ergänzende methodische Verfahren einer Problemlösung. In einer Synthese wird die Lösung eines Problems (z. B. einer Gleichung) bzw. eine Behauptung (z. B. Satz des Pythagoras) aus hinreichenden Bedingungen (z. B. Axiomen der Euklidischen Geometrie) abgeleitet. Wir gehen also von bekannten Voraussetzungen aus und lösen das Problem durch logische Ableitung. Bei der Analyse zerlegen wir das Problem in seine Bestandteile und suchen nach hinreichenden Voraussetzungen für die Problemlösung. Dabei kann es sich um vorausgesetzte Axiome in der Mathematik oder Naturgesetze in den Naturwissenschaften handeln, aber auch Annahmen und Hypothesen in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (z. B. über das Verhalten von Märkten, Börsen und Menschen).

In der Künstlichen Intelligenz (KI) werden Analyse und Synthese im Computer simuliert. Bei der Synthese wendet ein Algorithmus nur logische Regeln zur Ableitung einer Lösung aus bekannten Voraussetzungen an. Bei der analytischen Problemlösungssuche wird zusätzlich heuristisches Wissen darüber benötigt, welcher Lösungsweg erfolgversprechend ist. Dabei greifen wir auf Erfahrungen mit erfolgreichen Lösungsmustern zurück, die von der KI mittels Lernalgorithmen und Machine Learning gesucht werden.

In der Philosophie bezeichnet Synthese allgemein die Verknüpfung von Vorstellungen, Begriffen und Aussagen. Bei Kant (1724–1804) ist diese Verknüpfung eine aktive Leistung des Verstandes nach den Schemata von Kategorien. Dass zum Beispiel das Pferd, das ich gerade auf einer Koppel beobachte, wild ist, kann nicht durch Analyse des Begriffs „Pferd“, also durch bloßes Nachdenken, erschlossen werden. Schließlich gibt es auch zahme Pferde. Meine Vorstellung des Pferds muss also in diesem Fall mit einer zusätzlichen Beobachtung verbunden werden, der Tatsache, dass es auf einer Koppel steht. Dass aber ein Schimmel weiß ist, folgt durch Begriffsanalyse, denn ein Schimmel ist per definitionem ein weißes Pferd. Kant unterscheidet daher zwischen Erweiterungsurteilen, die er synthetisch nennt, und Erläuterungsurteilen also analytischen Urteilen. Analytische Urteile sind aufgrund logischer Analyse wahr – unabhängig von beziehungsweise „vor“ (a priori) aller empirischen Erfahrung. Demgegenüber würde man synthetische (Erweiterungs-)urteile von Beobachtung und empirischer Erfahrung abhängig machen. Nach Kant gibt es aber auch synthetische Urteile a priori. Das sind zum Beispiel die Gesetze der Geometrie, da sie durch geometrische Konstruktionsverfahren (synthesis) begründet werden, obwohl sie (wie alle mathematischen Urteile) unabhängig (a priori) von aller empirischen Wahrnehmung gelten. Dass aber Synthese und Analyse eines Tages von Maschinen in der KI betrieben werden könnten, hätte sich Kant in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.