Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Synthese
fatum 6 | , S. 57
Inhalt

Für eine empirisch informierte Wirtschaftsethik

Die Zuweisung von Schuld ist ein tiefes menschliches Bedürfnis. Häufig werden daher ethisch problematische Entwicklungen auf die primitiveren Beweggründe der Individuen zurückgeführt. Als Schuldige der Finanzkrise wurden dementsprechend schnell gierige Manager ausgemacht. Die Therapie ethischer Probleme besteht regelmäßig in der moralischen Aufrüstung des Einzelnen, wie es der Wirtschaftsethiker Karl Homann formuliert.1 Viel zu häufig vernachlässigen die gut gemeinten Empfehlungen aber die Wirkungszusammenhänge des Wirtschaftssystems. Die Wirtschaftsethik hat bis heute nicht die grundlegende Idee des Moralphilosophen Adam Smith nachvollzogen, die darin besteht, dass ethisch wünschenswerte Ergebnisse durch die geeignete Kanalisierung des Eigeninteresses erzielt werden können. Daher genügt sich die Wirtschaftsethik häufig in einer Appellitis, die von jedem Einzelnen verlangt nach ethischen Idealen zu streben und zum Wohle einer besseren Gesellschaft härter an seiner Moral zu arbeiten. Die Wirtschaftsethik ist gut beraten ihren Fokus von den hehren Motiven hin zu wünschenswerten Ergebnissen zu verschieben. Dafür müssen die Einzelwissenschaften mit ihren empirischen Methoden die Wirtschaftsethik informieren. Dieser Aufsatz ist daher ein Plädoyer für die Synthese aus normativer Orientierung und empirischer Fundierung.

Die Vernachlässigung empirischer Zusammenhänge im Zuge der moralischen Aufrüstung ist problematisch: Der Ansatz unterschätzt die systematische Bedeutung kontingenter Handlungsbedingungen für unsere Entscheidungen. Auch im Bereich des moralischen Handelns zeigt sich, dass unsere Entscheidungen häufig von äußeren Einflussfaktoren abhängig sind. Eine wichtige Rolle kommt an dieser Stelle der empirischen sozialwissenschaftlichen Forschung zu, da sie helfen kann die Wirtschaftsethik vom Kopf auf die Füße zu stellen. So wurde beispielsweise in Experimenten gezeigt, dass die Bereitschaft anderen zu helfen maßgeblich von Gerüchen der Umgebung beeinflusst wird. Der olfaktorische Eindruck von Sauberkeit lässt uns – bei Konstanz aller anderen Faktoren – großzügiger werden.2 Wir mögen dies für unglaublich halten, da wir womöglich geneigt sind zu glauben, dass von all unseren Intuitionen doch aufgrund ihres hohen Stellenwerts zuvorderst die moralischen besonders robust sein sollten. Vermutlich werden die meisten von uns sogar dazu neigen die Reaktion ihrer eigenen moralischen Intuitionen auf Umwelteinflüsse zu leugnen. Ähnliche Fälle von statistisch signifikantem übermäßigem Selbstvertrauen beobachtet man auch in der Erkenntnistheorie, beispielsweise in der Antwort auf die Frage, ob man sich als überdurchschnittlich guten Autofahrer bezeichnen würde. Die Fakten bleiben davon aber unberührt.

Vielen ist der, auf David Hume zurückgehende, naturalistische Fehlschluss geläufig. Dieser besagt, dass aus einem Sein kein Sollen folgt, dass also aus Tatsachenbeobachtungen keine normativen Schlüsse gezogen werden dürfen. Das häufig vertretene Argument beispielsweise, dass etwas „wider die Natur“ sei, wird, obwohl eigentlich eine Tatsachenbehauptung, oft als normatives Argument verstanden. Genmanipulation wird etwa abgelehnt, weil es einen anmaßenden Eingriff des Menschen in eine offenbar geheiligte Schöpfung darstelle. Ist man aber nicht bereit, die mindestens zwei darin steckenden metaphysischen Prämissen zu akzeptieren, nämlich dass die Natur von Gott geschaffen wurde und vom Menschen nicht verändert werden darf, wird man eine so „begründete“ Kritik an der Genmanipulation als naturalistischen Fehlschluss zurückweisen müssen. Weniger bekannt ist wohl der moralistische Fehlschluss.3 Der moralistische Fehlschluss dreht den naturalistischen Fehlschluss gewissermaßen um, indem er sagt, dass aus einem Sollen kein Sein geschlossen werden kann. Dieser Fehlschluss spielt aber gerade in der Wirtschaftsethik eine ähnlich wichtige Rolle wie der naturalistische. Hier werden empirische Befunde, die nicht ins ideologische Weltbild der Moralisten passen, ignoriert oder mit Gewalt eingepasst. So kann aktuell beispielsweise beobachtet werden, dass humanitäre Überlegungen im Rahmen der Flüchtlingskrise zu übermäßig optimistischen ökonomischen Prognosen führen. Die falsche Rechnung dient schließlich einem guten Zweck. Die Argumentation folgt dann Christian Morgensterns Gedicht Die Unmögliche Tatsache, in dem der von einer Kutsche Totgefahrene sich nach Studium der Straßenverkehrsordnung im Recht wähnt und hartnäckig weiterlebt: Und er kommt zu dem Ergebnis: nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.

Ein prägnanter Fall für ein solch empiriefeindliches Vorgehen zeigt sich in der grundsätzlichen Skepsis vieler Moralisten gegenüber dem Marktmechanismus. Bestimmte Dinge sollte man, so die Forderung, schlicht nicht dem Markt überantworten. Diese Überantwortung an den Marktmechanismus wird auch als Kommodifizierung bezeichnet. Die vermeintlich oder tatsächlich schädlichen Wirkungen des Marktmechanismus in einem bestimmten Gebiet werden dabei nicht empirisch festgestellt. Gelegentlich wird das Vorhandensein negativer Konsequenzen schlicht behauptet, ohne dass Belege überhaupt zitiert würden. In anderen Fällen wird eher metaphysisch argumentiert. Etwa wenn behauptet wird, dass durch die Kommodifizierung nun handelbare Dinge profanisiert würden, ihnen also die Heiligkeit geraubt werde. Dieser Art von Kritik ist freilich durch rationale Argumente schwer zu begegnen. Die Möglichkeit die Effizienzvorteile des Marktes zu nutzen und den echten oder vermeintlichen Problemen durch geeignete Regulierungen beizukommen, wird nicht in Erwägung gezogen, da der Markt als solcher im jeweiligen Gebiet tabuisiert wird. Dies soll im Folgenden an einem Beispiel erläutert werden, das die Autoren Jason Brennan und Peter Jaworski in ihrem Buch Markets without Limits verwenden.4

Die Kommodifizierungskritiker behaupten unter anderem, dass die Käufer und Verkäufer Dinge, die auf dem Markt gehandelt werden, als reine Ware betrachten. Als reine Ware definieren sie etwas, dessen Produktion, Vertrieb und Genuss durch eine oder mehrere Eigenschaften, die allein dem Markt eigen sind, bestimmt werden. Wenn man eine reine Ware so verstehen will, dann bedeutet das wohl in der Tat, dass man den entsprechenden Dingen nicht (mehr) mit Achtung oder Respekt begegnet. Nun ist aber keineswegs klar, dass der Kauf und Verkauf von etwas dazu führt, dass es als reine Ware wahrgenommen wird. Dies kann am Beispiel von Haustieren verdeutlicht werden. Die Kommodifizierungskritiker müssten zeigen, dass Haustiere, die gekauft werden, systematisch schlechter behandelt werden als Haustiere, die verschenkt werden. Da die Kritiker die Behauptung aufstellen, dass der Kauf von Haustieren diese in den Augen ihrer Eigentümer vom Lebewesen zum Objekt reduziert, läge die Beweislast bei ihnen und sie müssten entsprechende empirische Belege für diese Behauptung erbringen. Dieser Versuch unterbleibt jedoch. Die Behauptung ist zwar prinzipiell prüfbar, dies ist aber gar nicht das Ziel der Kritiker. Somit bleibt sie eine rein gefühlige Behauptung.

Wenn es darum geht den moralistischen Fehlschluss zu vermeiden, ist empirische Forschung unentbehrlich. So kann insbesondere experimentelle Forschung helfen die Kontingenzen unseres moralischen Handelns besser zu verstehen. Sie kann uns für Blind Spots5, also blinde Flecken in unserem moralischen Sichtfeld, sensibilisieren und institutionelle Lösungen vorschlagen, die ethisch erwünschtes Verhalten fördern und ethisch unerwünschtes Verhalten verhindern.

In einer jüngeren Studie haben wir im Experimentallabor die Einflüsse der Öffentlichkeit auf Lügeverhalten analysiert.6 Die Teilnehmer wurden zufällig in zwei Gruppen eingeteilt: eine private Gruppe und eine öffentliche Gruppe. Alle Teilnehmer warfen mehrmals einen sechsseitigen Würfel, waren aber aufgefordert sich die Augenzahl ihres ersten Wurfs zu merken und diese in den Computer einzugeben. Die Auszahlung für das Würfeln bestimmte sich als Produkt aus berichteter Augenzahl und 2 €. Bevor die Teilnehmer würfelten, wurden sie gebeten zu schätzen, welche Augenzahl die anderen Teilnehmer im Raum im Durchschnitt berichten würden. Die Auszahlung der Teilnehmer für das Schätzen hing von der Genauigkeit ihrer Schätzung ab. Am Ende des Experiments wurden die Teilnehmer zufällig für das Würfeln oder für das Schätzen bezahlt. Die Teilnehmer der privaten Gruppe beantworteten nach dem Bericht ihrer gewürfelten Augenzahl direkt einen Fragebogen und erhielten dann ihre Auszahlung. Die Teilnehmer der öffentlichen Gruppe mussten sich nach dem Bericht erheben, einander zuwenden und die von ihnen eingegebene Augenzahl laut ansagen. Der Experimentleiter überprüfte, ob die Ansage der tatsächlich eingegebenen Augenzahl entsprach. Erst dann beantworteten sie den Fragebogen. Alle Teilnehmer waren vor Beginn des Experiments vollständig über den Ablauf informiert.

Die Ergebnisse des Experiments zeigen, dass die Teilnehmer ähnliche Lügenniveaus in der Öffentlichkeit wie im Privaten erwarten. Sie haben in der Öffentlichkeit aber die Tendenz eine Augenzahl zu berichten, die sehr nah an ihrer Schätzung der Berichte der anderen liegt. Sie bemühen sich um Konformität. Im Privaten berichten sie hingegen systematisch höhere Augenzahlen als sie dies von anderen erwarten. Es zeigt sich, dass die Reaktion der Teilnehmer auf die Öffentlichkeit ausschließlich durch Teilnehmer getrieben ist, die sich stark für die moralischen Folgen ihrer Handlungen interessieren. Teilnehmer hingegen, die sich vorrangig an ethischen Regeln orientieren, und nicht primär an den Folgen ihres Tuns, reagieren nicht auf die Öffentlichkeit. Sie handeln also in der Öffentlichkeit wie im Privaten. Die Ergebnisse sind aus mindestens zweierlei Gründen interessant. Zum einen demonstrieren sie, dass die Reaktion der Teilnehmer eine Frage ihrer ethischen Einstellung ist. Zum anderen verweisen sie darauf, dass die Öffentlichkeit bei pessimistischen Erwartungen bezüglich des moralischen Verhaltens anderer für folgenorientierte Teilnehmer durch den entstehenden Konformitätsdruck zu einer ethisch unerwünschten selbsterfüllenden Prophezeiung werden könnte. Leute stehen bekanntlich nicht gerne als der moralische Trottel da, der sich von anderen ausbeuten lässt. In jedem Fall übt die Frage, ob sie sich beobachtet fühlen oder nicht einen wesentlichen Einfluss auf das Moralverhalten vieler Teilnehmer aus. Es scheint daher wirksamer über das geeignete Design der Institutionen nachzudenken, als sie nochmals aufzufordern Kant oder die Bibel zu lesen.

Dieser Aufsatz ist kein Plädoyer für eine rein empirische Wirtschaftsethik. Wir erwarten von der Wirtschaftsethik, als Teilgebiet der Ethik, zu Recht dass sie eine normative Orientierungsleistung erbringt. Eine rein empirische Wirtschaftsethik würde wohl mit der problematischen Neigung einhergehen, die Individuen ihrer moralischen Verantwortung zu entbinden und ethische Steuerung ausschließlich über institutionelle Arrangements zu erreichen zu suchen. Ohne empirische Rückkopplung, ohne Bezugnahme auf unsere psychologischen, biologischen und ökonomischen Restriktionen, ist sie aber im besten Fall zahnlos. Es ist deswegen problematisch, wenn sogenannte Lehnstuhlethiker (nicht Lehrstuhlethiker!), die bewusst empirisch uninformiert über Moral reflektieren, behaupten, dass sich die Wirtschaftsethik nicht durch die oft ernüchternden Fakten menschlichen Handelns von ihren hehren Idealen abbringen lassen sollte. Es heißt freilich auch nicht, dass die Ethik im Angesicht empirischer Fakten jeglichen Anspruch fahren lassen sollte, aber: Sollen impliziert Können. Nur durch die Synthese von normativen und empirischen Argumenten schafft die Wirtschaftsethik daher einen Mehrwert.


  1. Karl Homann, Sollen und Können: Grenzen und Bedingungen der Individualmoral (Wien: Ibera Verlag, 2014).
  2. Katie Liljenquist et al., The Smell of Virtue: Clean Scents Promote Reciprocity and Charity in Psychological Science 21(3) (Washington, D.C.: APS, 2010), 381–383.
  3. Bernard B. Davis, The Moralistic Fallacy in Nature 272 (London: Macmillan Publishers Limited, 1978), 390.
  4. Jason F. Brennan et al., Markets without Limits. Moral Virtues and Commercial Interests (London: Routledge, 2016).
  5. Max H. Bazerman et al., Blind Spots: Why We Fail to Do What’s Right and What to Do about It (Bangladesh: University Press Group Ltd., 2013).
  6. Ostermaier et al., A Forum for Liars. How Public Scrutiny Influences Ethical Behavior (Working Paper, 2017).

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