Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Synthese
fatum 6 | , S. 83
Inhalt

Die Automatisierung des Vertrags

Den Weg in die Moderne stellt man sich begleitet von mächtigen Erfindungen vor: die Dampfmaschine, die die Pferdekraft ersetzt; die Eisenbahn, die einen Kontinent innerhalb weniger Tage durchquert statt in Monaten; das Fließband, das Arbeitsteilung und moderne Fabriken möglich macht. Etwas ebenfalls Mächtiges, aber in der Erscheinung Profaneres wird meist übersehen: Papierkram. Gesetze, Verträge, Kleingedrucktes – im Aufkommen einer Bürokratie sieht der Sozialtheoretiker Max Weber Anfang des 20. Jahrhunderts den Wesenskern der Moderne. Basierte davor Autorität auf göttlicher Gabe, Tradition oder Charisma, so begann Macht in modernen Staaten die Form von Gesetzestexten und Regeln anzunehmen. Vor allem Verträge sieht Weber als Essenz des modernen Lebens. Die Fähigkeit einer Gesellschaft, formale Verträge einzugehen und ihre Einhaltung zu garantieren, bezeichnen auch ein Jahrhundert nach Weber viele Ökonomen als Triebfeder für Wohlstand.1

Im Zuge der digitalen Revolution könnte sich das Werkzeug des Vertrags weiterentwickeln und zu einem smarten Vertrag werden. Hierbei handelt es sich um eine Synthese zwischen schriftlichem Abkommen und der Kontrolle seiner Bedingungen mithilfe eines Computerprogramms. Das Konzept dafür entwickelte der Informatiker Nick Szabo 1994. Wie ein klassischer Vertrag regelt ein smarter Vertrag Austausch oder Besitz von Wertgegenständen; allerdings mit einem Unterschied: Während ein klassischer Vertrag seine Wirkung eher durch seine Randbedingungen entfaltet – die implizite Androhung teurer Gerichtsprozesse und Anwaltsschreiben – erzwingt ein smarter Vertrag seine Umsetzung gleich selbst. Ein smarter Vertrag lässt bei Missachtung einer Vertragsbedingung die vereinbarte Strafe auf den Fuß folgen, ohne Mittelsmänner wie Polizisten oder Gerichtsvollzieher zu bemühen.

Ein einfaches Beispiel für die grundlegende Idee ist ein Getränkeautomat. Die Maschine nimmt Geldmünzen an und wirft ab einem vorgegebenen Betrag ein Getränk und das passende Wechselgeld aus. Die dem Gerät durch seine Konstruktion eingeschriebene Vertragsbedingung sieht also vor, dass nur derjenige ein Getränk erhält, der genug Geld eingeworfen hat. Bei zu wenig Geld gibt es kein Getränk, das ist die Strafe. Die Umsetzung wird durch das Design des Automaten erzwungen: Die Geräte sind ausreichend gepanzert, sodass man den Vertrag nicht so einfach umgehen kann. Diese Idee erweiterte Szabo in die digitale Welt: In Form eines Computerprogramms könnte ein smarter Vertrag nicht nur den simplen Verkauf von Getränken regeln, sondern den Austausch von Vermögensgegenständen aller Art. Szabo stellte sich beispielsweise vor, dass so ein Computerprogramm die Ratenzahlung eines Autos überwachen könnte. Ist der Käufer mit der Zahlung in Verzug, verhindert das Programm, dass sich die Tür des Autos öffnen lässt – solange bis wieder eine Zahlung auf einem Konto eingeht.

Lange fehlten die technischen Möglichkeiten, um smarte Verträge umzusetzen. Denn das Konzept erfordert ein hohes Maß an Autonomie des Programms. Niemand sollte von außen in die einmal vereinbarten Vertragsbedingungen eingreifen und sie im Nachhinein manipulieren können. Nur der Vertrag selbst soll unparteiisch über Verstöße und Einhaltung entscheiden. Könnte eine Partei eingreifen, bestünde für die andere kein Anreiz, sich auf den Vertrag einzulassen.

Die Alternative wäre, einer vertrauenswürdigen dritten Partei die Kontrolle des Vertrags zu überlassen – aber dann könnte man auch auf das herkömmliche System aus Mittelsmännern wie Anwälten und Richtern zurückgreifen.

In den letzten Jahren ist eine technische Lösung für dieses Problem entstanden: Die Digitalwährung Bitcoin könnte smarten Verträgen zum Durchbruch verhelfen. Um smarte Verträge zu verstehen, ist es daher zunächst notwendig, die Grundzüge von Bitcoin zu verstehen. Bitcoin entstand 2008, als ein Programmierer das Konzept für die Währung unter dem Pseudonym Satoshi Nakamoto verbreitete. Mittlerweile ist eine Währungseinheit über 1000 US-Dollar wert und alle existierenden Bitcoins zusammen 16 Milliarden US-Dollar. Doch die eigentliche Innovation besteht nicht in digitalen Münzen, sondern in der Art und Weise, wie Bitcoin Daten speichert: dezentral. Man kann sich diese Währung vorstellen wie ein öffentliches Telefonbuch, in dem die Nummern aller Einwohner verzeichnet sind. Man kann zwar bei seinem eigenen Exemplar eine Telefonnummer durchstreichen oder Ziffern verändern, wenn man eine Nummer tilgen will. Doch wäre diese Manipulation unsinnig, da die richtige Nummer ja in sämtlichen anderen Büchern steht. Bei Bitcoin werden statt Telefonnummern Geldbeträge in einem öffentlichen Buch notiert. Nur dass dieses Buch nicht in Telefonzellen und Behörden ausliegt, sondern über das Internet verteilt ist. Jeder Nutzer der Bitcoin-Software speichert eine Kopie dieses Buchs auf seinem Computer. Das macht es unmöglich, eine digitale Münze zu fälschen oder doppelt auszugeben – denn in dem öffentlichen Buch ist auch verzeichnet, wem welcher Geldbetrag gehört. Jeden Betrugsversuch könnten andere also sofort sehen, da die einzelnen Kopien des Buchs sich plötzlich unterscheiden würden. Dieser dezentrale Speicher heißt bei Bitcoin Blockchain und stellt auch die Basis für smarte Verträge dar.

Was das Ganze so sicher macht, ist die Art und Weise, wie die Blockchain weiter anwächst, also neue Bitcoin-Transaktionen verzeichnet werden. Anders als klassische Währungen greift Bitcoin nicht auf eine zentrale Instanz wie eine Zentralbank oder Geschäftsbanken zurück, um die Sicherheit und Stabilität des Zahlungsverkehrs zu gewährleisten. Stattdessen werden Transaktionen im Bitcoin-Netzwerk von den Teilnehmern selbst verwaltet. Die Währung ist damit unabhängig von einem vertrauenswürdigen Mittelsmann.

Alle Bitcoins sind durch das sogenannte Mining entstanden, das wie ein Puzzle funktioniert. Die Teilnehmer des Puzzles empfangen sehr viele unbestätigte Transaktionen über das Netzwerk und versuchen, daraus einen fertigen Block zu minen. Dazu suchen sie nach einer Lösung für ein kryptografisches Rätsel, bei dem sehr viele Lösungsversuche durchprobiert werden müssen. Ist diese Lösung von einem Teilnehmer gefunden, geht alles sehr schnell: Der Block ist fertig und wird von allen Teilnehmern in ihre Kopie der Blockchain eingebunden.

Das Nakamoto-Konsens-Protokoll gilt als entscheidend für den Erfolg der Währung. Es sorgt dafür, dass ein Konsens im Netzwerk darüber entsteht, welche Transaktionen gültig sind. Umgekehrt ist es sehr schwierig für einen potenziellen Angreifer, den einmal hergestellten Konsens infrage zu stellen. Da jeder Block auf den vorhergehenden verweist, würde die Manipulation eines früheren Blocks auffallen und die Neuberechnung aller folgenden Blocks erzwingen. Je länger ein bestimmter Block also zurückliegt, umso unveränderlicher ist er. Die Blockchain lässt sich daher mit Schichten einer geologischen Formation vergleichen: Die Oberfläche kann noch leicht umgegraben werden, aber je tiefer man kommt, umso stabiler sind die Schichten.2

Mit der Blockchain-Technik rücken auch smarte Verträge erstmals in Reichweite. Mittlerweile existieren neben Bitcoin hunderte weitere Blockchains, und einige Projekte gehen über reines Digitalgeld weit hinaus. Eines davon, genannt Ethereum, gilt heute als technisch versiertestes Blockchain-Projekt. Im Unterschied zu Bitcoin lässt sich damit nicht nur Geld auf einer Blockchain speichern, sondern auch komplexe Programme. Bitcoin erlaubt nur wenige Rechenoperationen – Ethereum kennt dagegen eine Programmiersprache, mit der sich alle möglichen Anweisungen und Bedingungen schreiben lassen. Sie ist speziell dafür konzipiert, die Klauseln und Regeln von smarten Verträgen festzulegen.

Zeichentrick-Fische die unter Wasser hin- und herschwimmen
Smart-Contract-basiertes Aquarium-Onlinespiel
Quelle: Screenshot von der Website http://pray4prey.com/

Mittlerweile existieren einige hundert Prototypen smarter Verträge auf der Ethereum-Blockchain, die mit der Ethereumeigenen Cryptowährung Ether arbeiten. Ein Beispiel ist das Programm Ethereum Pyramid. Das Design ist simpel: Der Urheber des smarten Vertrags zahlt an diesen 1 Ether (gewissermaßen als Pfand) und wettet darauf, dass sich drei Personen finden, die ebenfalls 1 Ether einzahlen. Falls das passiert, verdreifacht er seinen Einsatz. Die drei Nachfolgenden verdreifachen ihren Einsatz, wenn sich weitere neun Personen finden, die dem Programm 1 Ether überweisen. So geht es weiter, bis sich irgendwann der Kreis der Personen nicht mehr verdreifachen lässt – die letzten sind die Dummen und verlieren ihren Einsatz. Die Pyramide ist als Witz programmiert, lässt aber die Auswirkungen der Technik erahnen: In der Wirtschaftswelt heißt so etwas Schneeballsystem und ist gesetzlich verboten. Der US-Unternehmer Bernie Madoff sammelte mit so einem Ponzi-Scheme Milliarden von Anlegern ein, bevor sein Kartenhaus zusammenbrach und er zu 150 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Bislang hing so ein Schneeballsystem von einem Mittelsmann wie Madoff ab: Dieser musste das ganze eingesammelte Geld verwalten und verteilen, und der Versuchung widerstehen, bei einer genügend großen Summe damit abzuhauen. Auf der Blockchain gibt es einen solchen Mittelsmann nicht. Der Code selbst wird zum Gesetz – so wie von Szabo vorhergesagt.

Was es bedeutet, wenn derartige autonome Programme in Umlauf kommen, lässt sich bislang nicht völlig absehen. Klar ist, dass sich mit dem System auch illegale Verträge schreiben lassen. Einige Projekte auf Ethereum widmen sich derzeit der Erstellung anonymer Marktplätze – Onlineshops, deren ganze Infrastruktur dezentral auf der Blockchain liegt und die sich daher nicht abschalten lassen. Gedacht sind sie vermutlich als Nachfolger von Plattformen wie der Silk Road, auf denen im Darknet Drogengeschäfte abgewickelt werden. Bislang muss der Betreiber solcher Börsen Acht geben, nicht erwischt zu werden. Fliegt er auf, geht auch sein Marktplatz unter. Da in der Form eines smarten Vertrags die komplette Infrastruktur dezentral auf der Blockchain liegt, lässt sie sich theoretisch nicht mehr stoppen. Der Informatiker Ari Juels von der Cornell University warnt daher bereits vor dem Aufkommen krimineller smarter Verträge, die beispielsweise auf den Hack einer Website oder das Stehlen von Firmeninformationen ein digitales Kopfgeld aussetzen könnten.3

Nicht nur ethisch, auch technikphilosophisch stecken in smarten Verträgen viele offene Fragen; zum Beispiel ob die Technik wirklich so autonom ist, wie sie vorgibt – oder ob nicht doch eine minimale Kontrolle durch Menschen für das Funktionieren nötig oder sogar sinnvoll ist. Studieren konnte man das zuletzt am Beispiel des DAO Projekts (Decentralized Autonomous Organization). Das Startup Slock.it versprach, die erste virtuelle Firma zu bauen: eine Art Investmentfonds, der allein mithilfe von Abstimmungen über die Blockchain entscheidet, in welche Projekte er Geld investiert. Über ein öffentliches Crowdfunding sollten anonyme Teilhaber Grundkapital beisteuern und sich dadurch Stimmrechte bei der DAO erkaufen. Nutzer steuerten im Sommer 2016 rund zwölf Millionen Ether bei, zu diesem Zeitpunkt umgerechnet 150 Millionen US-Dollar wert, das erfolgreichste Crowdfunding aller Zeiten. Dann geschah ein Hack: Ein Angreifer stahl mehr als 50 Millionen US-Dollar mithilfe einer Sicherheitslücke im Programm. Diese erlaubte es ihm, immer wieder Ether auf ein anderes Konto umzuleiten, ähnlich wie ein Geldautomat, der Scheine ausgibt ohne das eigene Konto zu belasten.

Für so einen Fall gab es keine Regeln – der Vertrag selbst sollte ja alle Regeln definieren, gemäß dem Motto Code is Law. Gehörte Diebstahl etwa auch dazu? Der Angreifer selbst sah das so. In einem offenen Brief behauptete er, er habe lediglich eine Funktion genutzt, die ihm der smarte Vertrag geboten habe. Die Funktion, sich selbst zu belohnen.4

Die Entwickler-Gemeinde von Ethereum schaffte es letztlich, den digitalen Raubzug ungeschehen zu machen – mithilfe einer Änderung im Kern der Software, die am Ende den smarten Vertrag der DAO eben doch manipulierte. Die Investoren erhielten ihr Kapital zurück, doch für Kritiker war der Eingriff in den Code ein Sakrileg am allerheiligsten Gebot der Blockchain.

Der Konflikt wirft ein Schlaglicht auf ein Kernproblem von smarten Verträgen: Was passiert, wenn diese nicht die Absichten ihrer Erfinder erfüllen, beispielsweise weil sie nicht gut programmiert sind? Bräuchte es dann nicht ein Schlupfloch, um Schaden von Anwendern abzuwenden? Doch wer sollte dann darüber entscheiden, was erlaubt ist oder was nicht? Lässt sich ein Vertrag, der komplexe menschliche Beziehungen regelt, überhaupt vollständig in Form eines Computerprogramms niederlegen?

In jedem Fall würde ein smarter Vertrag entscheidend in die Willensfreiheit von Menschen eingreifen: Ihnen wird praktisch kein Raum mehr für einen Rechtsbruch gelassen. Gerade die Möglichkeit dazu erlaubt aber erst moralisches Handeln. Zudem bestehen große rechtsethische Probleme. Beispielsweise legt das Bundesdatenschutzgesetz ein Verbot automatisierter Entscheidungen fest. Algorithmen dürfen nicht automatisiert Entscheidungen treffen, wenn dies für den Betroffenen rechtliche Folgen hat oder ihn erheblich beeinträchtigt. Um beim Beispiel eines Autokredits zu bleiben: Die Software einer Bank dürfte also nicht automatisiert entscheiden, dass einem Schuldner sein Auto weggenommen wird – er müsste vorher angehört oder zumindest abgemahnt werden. Ein Richter würde vielleicht entscheiden, dass der säumige Schuldner das Auto dringend braucht, um zur Arbeit zu kommen – und der Bank verbieten, es ihm wegzunehmen. Ein smarter Vertrag für einen Autokredit kann mit solchen menschlichen Abwägungen nichts anfangen – wenn der Programmcode es vorsieht, würde das Schloss einfach nicht mehr aufgehen, ganz egal wie dringend der Mann das Gefährt braucht (oder ob noch ein Kind auf dem Rücksitz sitzt). Die Technik hat also das Potenzial, ganz erheblich in die Würde des Einzelnen einzugreifen und Konflikte auf ziemlich archaische Art zu regeln. Ein weiteres ethisches Problem ist, dass es sich bei smarten Verträgen um ein Elitenvorhaben handelt – lediglich eine sehr versierte Minderheit (wenn überhaupt) ist in der Lage, die konkreten Auswirkungen von smarten Verträgen zu begreifen, die viele hundert Programmzeilen lang sein können. In einem Rechtssystem aus smarten Verträgen könnte also leicht eine Macht-Asymmetrie zwischen einfachen „Bürgern“ und einer technokratischen Elite entstehen.

Die Ethereum-Gemeinde fällte beim Hack der DAO letztlich ein moralisches Urteil und bewertete den Vorgang als Betrug. Eine Minderheit war jedoch nicht einverstanden und schrieb in einer wutentbrannten Erklärung: In einer globalen Gemeinschaft, in der jedes Individuum eigene Gesetze, Bräuche und Glaubensvorstellungen pflegt, wer soll da sagen was Recht und Unrecht ist?5


  1. Francis Fukuyama, Trust. The Social Virtues & the Creation of Prosperity (New York: The Free Press, 1995).
  2. Andreas M. Antonopoulos, Mastering Bitcoin: Unlocking Digital Cryptocurrencies (Cambridge: O’Reilly Media, 2015).
  3. Ari Juels et al., The Ring of Gyges: Using Smart Contracts for Crime (ACM CCS, 2016), http://www.initc3.org/files/Gyges.pdf (aufgerufen: 4. Mai 2017) .
  4. O.A., An Open Letter, (Pastebin, 2016), http://pastebin.com/CcGUBgDG (aufgerufen: 4. Mai 2017).
  5. O.A., The Ethereum Classic Declaration of Independence (Ethereum Classic, 2016), https://ethereumclassic.github.io/assets/ETC_Declaration_of_Independence.pdf (aufgerufen: 4. Mai 2017).

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