Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Synthese
fatum 6 | , S. 15
Inhalt

„Alternative Fakten“: Wahrheit, Lüge – Synthese

Ein Plädoyer für unverständige Vernunft

Ein Gespenst geht um in den Köpfen; ein Gespenst, das die Welt scheinbar aus den Angeln zu heben droht; ein Gespenst, das manchmal unter der Bezeichnung „Fake-News“ oder auch „Alternative Fakten“ sein Unwesen treibt und sein Wirken offenbart. Und doch kann bisher – trotz dieser schicken Begriffe – augenscheinlich weder dessen habhaft geworden, noch dessen Vertreibung erreicht werden.

Der allgemeinen Auffassung nach scheint das Gespensteswirken darin zu bestehen, dass die Grenzen der Wirklichkeit verschwimmen, sich nicht mehr eindeutig unterscheiden lässt zwischen Sinnhaftigkeit und Bullshit1, Fakt und fabulöser Fiktion, Wahrheit und Lüge. Die Vertreibung könne dieser Auffassung nach dadurch erreicht werden, wieder eine präzise Trennung zwischen beidem herzustellen. Gelänge dies, könne der Heimsuchung unserer Köpfe durch das Gespenst ein Ende bereitet werden.

Diese Auffassung werde ich nachfolgend an einem in jüngster Vergangenheit häufig thematisierten und kommentierten Beispiel – dem Streit um die Größe des Publikums bei Donald Trumps Amtsantritt – diskutieren, um eine wesentliche und meiner Ansicht nach nicht zu unterschätzende Voraussetzung dieser Auffassung ans Licht zu holen und dieser allgemeinen eine etwas speziellere Auffassung – nebst einem Lösungsvorschlag – an die Seite zu stellen.

Die Genese des Gespenstes: Ein Rekonstruktionsversuch

Am 20. Januar 2017 fand die Inaugurationszeremonie des 45. Präsidenten der USA, Donald Trump, statt. Am darauffolgenden Tag verlas Sean Spicer, Pressesprecher des Weißen Hauses, eine Stellungnahme, bei der er einen kleinen Teil der Berichterstattung der vergangenen 24 Stunden diskutieren wolle. Hierbei warf er einigen Mitgliedern der Mediengemeinschaft vor, an absichtlich falscher Berichterstattung beteiligt zu sein, wobei ich mich auf einen der dort genannten Vorfälle beschränken werde:

Dieser habe in […] Fotographien des Inaugurationsablaufes [bestanden], die mit Absicht auf eine [gewisse] Art gestaltet wurden […], um die enorme Unterstützung zu minimieren, die sich auf der National Mall versammelt hatte. Zusätzlich seien auch inakkurate Zahlen, die die Größe der Menschenmenge beinhalten, getweeted worden. Diesen Zahlen stellte er das, was wir wissen gegenüber und [ging] die Fakten [durch], wonach er zu dem Schluss kam, dass dies das größte Publikum war, das jemals eine Inauguration miterlebt hat […] sowohl persönlich [anwesend] als auch [digital] rund um den Erdball.2

Im weiteren Verlauf des 21. Januars folgten entsprechende Reaktionen der Medien auf Spicers Aussagen. Kellyanne Conway, Beraterin des US-Präsidenten, stellte sich im NBC-Format Meet the Press am 22. Januar dem Reporter Chuck Todd, der mitunter wissen wollte, wieso der Präsident den Pressesprecher des Weißen Hauses darum bittet, zum ersten Mal vor das Podium zu treten und eine Lüge zu äußern. Conway entgegnete, dass er, Todd, diese Äußerungen als Lügen bezeichne, Sean Spicer [hingegen] […] alternative Fakten dazu anführte. Todd beantwortete dies mit der Bemerkung, dass für ihn alternative Fakten […] keine Fakten, sondern Lügen seien.3 Sind Alternative Fakten also schlicht Lügen?

Die allgemeine Auffassung: Einfach die Fakten prüfen?

Ob es sich bei einer Aussage um eine Lüge handelt oder nicht, wird üblicherweise dadurch herauszufinden versucht, dass die gemachte Aussage mit den zur Verfügung stehenden Fakten verglichen wird. Was sind nun hier die zur Verfügung stehenden Fakten?

Wenn wir „Fakten“ als beglaubigte Ereignisse verstehen und uns vergegenwärtigen, welche der in Rede stehenden Ereignisse von allen Parteien (implizit oder explizit) beglaubigt wurden, dann dürfen wir als Fakten festhalten, dass die Inaugurationszeremonie stattgefunden hat, dass es ein Publikum gab, dass Bildaufnahmen gemacht wurden etc.

Wollen wir nun also beurteilen, ob die Aussagen der Medien bzw. die von Sean Spicer zu den Zahlen des Publikums eine Lüge darstellen oder nicht, und vergleichen sie dazu mit den Fakten, stellen wir fest, dass sich weder die Aussagen der Medien, noch die von Spicer als „wahr“ oder „falsch“ beurteilen lassen: Die Medien, besonders bei den Berichten vom 20. 01., bezogen sich bei ihren Aussagen vornehmlich auf Foto-Vergleiche zwischen Obamas Inauguration 2009 und Trumps Inauguration 2017 sowie auf daraus resultierende Schätzungen5, die durch das Weiße Haus nicht beglaubigt wurden. Spicer hingegen berief sich bei seinen Zahlen auf subjektive Eindrücke (des Präsidenten?) während der Zeremonie, Zahlen zur Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs und zu Personen, die nicht persönlich vor Ort waren6 – die von den Medien ebensowenig beglaubigt wurden. Da wir folglich keine Fakten zur Menge des Publikums haben, sondern bestenfalls nachvollziehbare und fachlich fundierte, schlechtestenfalls unnachvollziehbare und fachlich unfundierte Meinungen, halte ich Lügenvorwürfe gegen beide Parteien in diesem Zusammenhang für unanständig.

Die allgemeine Auffassung, durch schlichte Prüfung der Fakten zwischen Wahrheit und Lüge trennen zu können, stellt sich anhand dieses Beispiels also als insofern problematisch heraus, als mir die grundlegende Voraussetzung dieser Auffassung die einfache und unmittelbare Verfügbarkeit von Fakten zu sein scheint, die so jedoch seltenst gegeben ist: Solange keine gemeinsame Faktenbasis geschaffen worden ist, sind „alternative Fakten“ – ebenso wie alle sonstigen „Fakten“ – keine Fakten, sondern auf (fundierten oder willkürlichen) Annahmen beruhende Meinungen.

Wie dem auch sei7: Nachdem nun, soweit die Lesenden meiner Argumentation folgen mochten, mehr oder weniger klar gezeigt werden konnte, dass eingangs erwähntem Gespenst in diesem Fall nicht habhaft geworden werden kann, indem durch einfache Faktenprüfung Wahrheit von Lüge getrennt wird, möchte ich eine Möglichkeit anbieten, wie eine gemeinsame Richtschnur gefunden werden könnte, bei der alle – bzw. in diesem Fall beide – Streitparteien ihren Platz finden.

Die speziellere Auffassung: Unverständige Vernunft

Es scheint mir sinnvoll, anzunehmen, dass der Konflikt seinen Anfang in der Darstellungsweise der Schätzungen des Inaugurationspublikums in den Medien nahm: Abgesehen von der sehr differenzierten Darstellungsweise in der New York Times8, gab es auch deutlich weniger differenzierte Darstellungen, die die zugrundeliegenden (Fach-)Meinungen als Fakten präsentierten, wodurch sie sich meiner Meinung nach des unsauberen und bewusst manipulativen Journalismus schuldig machten, den Spicer beanstandete. Gleichzeitig halte ich es für ebenso sinnvoll anzunehmen, dass die weitere Zuspitzung des Konflikts auf die – meinem Empfinden nach – unverhältnismäßig scharfe Kritik des Weißen Hauses zurückzuführen ist, bei der Spicer es den Medien (der Darstellung dieses Artikels nach) gleichtat und Meinung als Fakt präsentierte.

Derart gegeneinander gerichtete Meinungspräsentationen bewirken für mich das Geistern des Gespenstes. Sieht man hinter der oberflächlichen Diskussion um Wahrheit und Lüge und „Alternative Fakten“, die – wie zu zeigen versucht wurde – ohnehin nicht vernünftig geführt werden kann, allerdings die Verbohrtheit der Streitparteien, sich am vermeintlichen Fakten-Charakter der eigenen Meinung festzuklammern, so läßt sich dies nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) als Quell des Bedürfnisses der Philosophie9 bezeichnen: Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.9

Die Gegensätze, die ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben, sind im Beispiel die Gegensätze in der Auffassung, was Fakt ist und was Erfindung, wer lügt und wer die Wahrheit sagt; ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung haben sie dadurch verloren, dass sowohl die Seite des Weißen Hauses als auch die der Medien nicht bereit zu sein scheinen, ihre Auffassung zu hinterfragen. Sie sind stattdessen dabei, Selbstständigkeit [zu] gewinnen, und zwar insofern als diejenigen, die dem Weißen Haus Glauben schenken – vielleicht nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Bereichen – in einer anderen Welt zu leben beginnen als diejenigen, die Selbiges gegenüber den Medien tun.

Bei Hegel entsteht dieses Problem dadurch, dass im Menschen sozusagen zwei Kräfte wirken; eine davon ist der Verstand: Als Kraft des Beschränkens trennt der Verstand die uns umgebende, gesamte Lebenswelt in unterschiedliche Teile, isoliert sie voneinander und fixiert diese Teile jeweils als ein Selbstständiges – tut also so als würden sie selbstständig, ohne die gesamte Lebenswelt existieren. Damit nicht genug, zusätzlich bestimmt der Verstand die unterschiedlichen, voneinander isolierten Teile als sich Entgegengesetzte, also als Gegensätze, für die Begriffspaare wie Seele und Leib, […] Freiheit und Notwendigkeit wohl prominente Beispiele sind. Das Beispiel der Bestimmung des Unendlichen veranschaulicht vielleicht das Wirken des Verstandes: Gemeinhin wird das Unendliche als das Negieren des Endlichen verstanden, als Gegensatz zum Endlichen. Je fester und glänzender das Gebäude des Verstandes [je strikter, ausgefeilter und umfangreicher die unterschiedlichen Gegensätze bzw. die Vorwürfe zwischen Weißem Haus und Medien], desto unruhiger wird das Bestreben [desto größer wird der Druck] […] aus ihm sich heraus in die Freiheit zu ziehen [den Druck abzubauen und die Situation zu lösen].9

Endliches Unendliches

Die zweite Kraft – die Vernunft – wirkt stattdessen nicht beschränkend oder trennend, sondern vereinigend: Solche festgewordene Gegensätze [wie zwischen Endlichem und Unendlichem] aufzuheben, ist das einzige Interesse der Vernunft. Dabei ist es nicht so, dass sich die Vernunft grundsätzlich gegen die Entgegensetzungen und Beschränkungen des Verstandes richtet, denn die Entzweiung ist [notwendig und] ein Faktor des Lebens; die Vernunft richtet sich stattdessen gegen das absolute Fixieren der Entzweiung durch den Verstand, also gerade gegen die Verbohrtheit der Streitparteien, an ihrer Wahrheit festzuhalten.9

Das Wirken der Vernunft läßt sich bildlich am vorherigen Beispiel der Bestimmung der Unendlichkeit darstellen: Der Verstand versteht das Unendliche als einfaches Gegenteil des Endlichen. Die Vernunft begreift, dass dieses Unendliche nicht wahrhaft unendlich ist, weil das Endliche dessen Ende ist. Das vernünftige Unendliche umfasst daher das Endliche und das verständige Unendliche.

Feuer und Wasser als Ying und Yang zwischen zwei Händen
Gegensätze
Quelle:Jonny Lindner, CC0 Public Domain: https://www.instagram.com/­p/BoxmMJLBFgb/?taken-by=jonny_lindner

Auf das Thema „Alternative Fakten“ ließe sich dieses Modell vielleicht folgendermaßen übertragen: Der Verstand versteht verständlicherweise Wahrheit als Gegenteil von Lüge, ebenso wie Fakten und „Alternative Fakten“; die Vernunft begreift, dass diese Gegenteile nur Teile der gesamten Lebenswelt sind und vereinigt die Entzweiten.

Vernünftiges Unendliches
Endliches Verständiges Unendliches

Konkret würden folglich in diesem Modell sowohl die Seite des Weißen Hauses als auch die Seite der Medien durch die Kraft der Vernunft erkennen, dass ihre Position der gegenseitigen Lügenvorwürfe zwar verständlich, aber gleichzeitig ebenso beschränkt sind, da sie sich gegeneinander richten und ausschließen. Um sich aus dieser eigenen Beschränktheit zu befreien, würden sie aufeinander zugehen und versuchen, ihre Positionen miteinander in Verbindung zu bringen und dadurch eine Position zu erreichen, die ihre vorherigen Positionen umschließt und mittels vernünftiger Synthese vereint.

Vernünftige, synthetische Wahrheit
Lüge Verständige Wahrheit

Das Gespenst in unseren Köpfen bestünde dieser Argumentation nach also weniger im Verschwimmen der vom Verstand gesetzten Grenzen zwischen Wahrheit und Lüge – sondern viel mehr in der Vorstellung, dass sie überhaupt vernünftig zu trennen wären.

Oder wie Hegel vielleicht hierzu gesagt hätte: Die Aufgabe der [unverständigen, vernünftigen] Philosophie besteht a[lso] darin, […] zu vereinen, das Sein in das Nichtsein – als Werden, die Entzweiung in das Absolute – als dessen Erscheinung, das Endliche in das Unendliche – als Leben zu setzen.9


  1. Harry G. Frankfurt, Bullshit (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006).
  2. Sean Spicer, Stellungnahme vom 21. 01. 2017, in Office of the Press Secretary (21. 01. 2017), https://www.whitehouse.gov/the-press-office/2017/01/21/statement-press-secretary-sean-spicer (aufgerufen: 23. März 2017). Die Formulierungen im Original lauten: […] I’d like to discuss a little bit of the coverage of the last 24 hours.; […] some members of the media were engaged in deliberately false reporting […], two instances yesterday stand out.; Secondly, photographs of the inaugural proceedings were intentionally framed in a way, in one particular tweet, to minimize the enormous support that had gathered on the National Mall.; Inaccurate numbers involving crowd size were also tweeted.; We do know a few things, so let‘s go through the facts. […] This was the largest audience to ever witness an inauguration […], both in person and around the globe.
  3. O.A., Transcript of ‚Meet The Press‘, 01/22/17, in NBC News (22. 01. 2017), http://www.nbcnews.com/meet-the-press/meet-press-01-22-17-n710491 (aufgerufen: 23. März 2017). Die Formulierungen im Original lauten: […] why the president asked the White House press secretary to come out in front of the podium for the first time and utter a falsehood?; Your’re saying it’s a falsehood. […] Sean Spicer […] gave alternative facts to that.; Look, alternative facts are not facts. They’re falsehoods.
  4. Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften, Digitales Wörterbuch der Deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/Faktum (aufgerufen: 12. März 2017).
  5. Prof. Dr. G. K. Still, Two views of the crowd, in Twitter (20. 01. 2017), https://twitter.com/GKStill/status/822572878717681671 (aufgerufen: 23. März 2017).
  6. Sean Spicer (a.a.O.); Hervorhebungen durch den Autor. Die Formulierungen im Original lauten: All of this space [die Flächen zwischen der Vereidigungsplattform und dem Washington Monument] was full when the President took the Oath of Office., [w]e know that 420,000 people used the D.C. Metro public transit yesterday […]., [t]his was the largest audience to ever witness an inauguration -- period -- both in person and around the globe.
  7. Thomas Ricklin, Philosophie, Mihran Dabag et al. (Hrsg.), Handbuch der Mediterranistik, Systematische Mittelmeerforschung und disziplinäre Zugänge (Paderborn: 2015), 397.
  8. Tim Wallace et al., Trump’s Inauguration vs. Obama’s: Comparing the Crowds, in The New York Times (20. 01. 2017), https://www.nytimes.com/interactive/2017/01/20/us/politics/trump-inauguration-crowd.html?_r=1 (aufgerufen: 23. März 2017); Hervorhebungen durch den Autor. Die Formulierungen im Original lauten: An analysis of news footage appears to indicate that fewer people attended […] Trump’s inauguration […]. The analysis […] estimates that the crowd […] was about one-third the size of Mr. Obama’s. […] The initial analysis was limited in scope […]. […] [T]here will likely be no clear satellite imagery of Washington. Without satellite imagery it is difficult to make a complete and accurate estimate of crowd size.
  9. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie (1801) in Jenaer Schriften 1801–1807, Werke 2 (Frankfurt am Main: 1986), 20 (Hervorhebungen im Original); 22; 20f. (Hervorhebungen durch den Autor); 21f.; 25.

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