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Was ist das: Synthese?
Antwort von Klaus Mainzer
Synthese wird heute oft mit der chemischen Verbindung von Stoffen und Molekülen in Zusammenhang gebracht. Mittlerweile gibt es sogar eine synthetische Biologie, in der chemische Bausteine zu lebenden Zellen verbunden werden. Tatsächlich leitet sich das Wort vom Altgriechischen σύνθεσις sýnthesis für Zusammensetzung, Zusammenfassung und Verknüpfung ab, entspricht also dem Lateinischen constructio für Konstruktion. Wissenschaftlich wird Synthese seit der Antike als Methode zur Erkenntnisgewinnung verstanden. So beschäftigt sich die Euklidische Geometrie mit der Konstruktion von Figuren, die mit Zirkel und Lineal hergestellt, also aus den Grundfiguren von Kreisen und Geraden zusammengesetzt werden. Theoreme der Euklidischen Geometrie (z. B. Satz des Pythagoras) werden nach logischen Regeln Schritt für Schritt aus vorausgesetzten Axiomen abgeleitet. Die logischen Ableitungsschritte entsprechen Konstruktionsschritten von Figuren. Daher heißt diese Form der axiomatischen Geometrie synthetisch.
Auch in der Grundschule beginnen wir zunächst mit Figurenkonstruktionen. Dann lernen wir die analytische Geometrie kennen, in der Figuren in Mengen von Punkten „zerlegt“ (griech. ἀνάλυσις análysis Auflösung) werden. Das entspricht der analytischen Chemie, bei der zusammengesetzte Stoffe in ihre chemischen Einzelbestandteile zerlegt werden. In der analytischen Geometrie werden die Punkte durch Zahlenkoordinaten, also in der Ebene durch Zahlenpaare, festgelegt. Figuren entsprechen nun Lösungen von Gleichungen über Zahlen: Die Geometrie geht in Algebra über, und an die Stelle des Konstruierens tritt das Rechnen. Heute berechnen Computer blitzschnell Milliarden solcher Punkte in der Bildgebung nach Gleichungen und Programmen. Eingeleitet hat diese Entwicklung René Descartes (1596–1650), der als Mathematiker die analytische (cartesische) Geometrie begründete und als Philosoph eine universelle Methode der Erkenntnisgewinnung nach dem Vorbild der Algebra propagierte.
Als Methoden der Erkenntnisgewinnung gehören Synthese und Analyse zusammen. Bereits der griechische Mathematiker Pappos von Alexandreia (4. Jh. n. Chr.) unterscheidet Synthese und Analyse als sich ergänzende methodische Verfahren einer Problemlösung. In einer Synthese wird die Lösung eines Problems (z. B. einer Gleichung) bzw. eine Behauptung (z. B. Satz des Pythagoras) aus hinreichenden Bedingungen (z. B. Axiomen der Euklidischen Geometrie) abgeleitet. Wir gehen also von bekannten Voraussetzungen aus und lösen das Problem durch logische Ableitung. Bei der Analyse zerlegen wir das Problem in seine Bestandteile und suchen nach hinreichenden Voraussetzungen für die Problemlösung. Dabei kann es sich um vorausgesetzte Axiome in der Mathematik oder Naturgesetze in den Naturwissenschaften handeln, aber auch Annahmen und Hypothesen in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften (z. B. über das Verhalten von Märkten, Börsen und Menschen).
In der Künstlichen Intelligenz (KI) werden Analyse und Synthese im Computer simuliert. Bei der Synthese wendet ein Algorithmus nur logische Regeln zur Ableitung einer Lösung aus bekannten Voraussetzungen an. Bei der analytischen Problemlösungssuche wird zusätzlich heuristisches Wissen darüber benötigt, welcher Lösungsweg erfolgversprechend ist. Dabei greifen wir auf Erfahrungen mit erfolgreichen Lösungsmustern zurück, die von der KI mittels Lernalgorithmen und Machine Learning gesucht werden.
In der Philosophie bezeichnet Synthese allgemein die Verknüpfung von Vorstellungen, Begriffen und Aussagen. Bei Kant (1724–1804) ist diese Verknüpfung eine aktive Leistung des Verstandes nach den Schemata von Kategorien. Dass zum Beispiel das Pferd, das ich gerade auf einer Koppel beobachte, wild ist, kann nicht durch Analyse des Begriffs „Pferd“, also durch bloßes Nachdenken, erschlossen werden. Schließlich gibt es auch zahme Pferde. Meine Vorstellung des Pferds muss also in diesem Fall mit einer zusätzlichen Beobachtung verbunden werden, der Tatsache, dass es auf einer Koppel steht. Dass aber ein Schimmel weiß ist, folgt durch Begriffsanalyse, denn ein Schimmel ist per definitionem ein weißes Pferd. Kant unterscheidet daher zwischen Erweiterungsurteilen, die er synthetisch nennt, und Erläuterungsurteilen also analytischen Urteilen. Analytische Urteile sind aufgrund logischer Analyse wahr – unabhängig von beziehungsweise „vor“ (a priori) aller empirischen Erfahrung. Demgegenüber würde man synthetische (Erweiterungs-)urteile von Beobachtung und empirischer Erfahrung abhängig machen. Nach Kant gibt es aber auch synthetische Urteile a priori. Das sind zum Beispiel die Gesetze der Geometrie, da sie durch geometrische Konstruktionsverfahren (synthesis) begründet werden, obwohl sie (wie alle mathematischen Urteile) unabhängig (a priori) von aller empirischen Wahrnehmung gelten. Dass aber Synthese und Analyse eines Tages von Maschinen in der KI betrieben werden könnten, hätte sich Kant in seinen kühnsten Träumen nicht vorstellen können.
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