Intelligenz, Formen und Künste
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Was ist das: Intelligenz, Formen und Künste?

Was hat es philosophisch mit den Titelbegriffen „Intelligenz“, „Formen“ und „Künste“ auf sich? Vier ExpertInnen geben Kurzantworten dazu: Professor Klaus Mainzer stellt eine Definition der Intelligenz vor, die sowohl „natürliche“ als auch „künstliche“ Intelligenz umfasst. Andrej Kupetz, Hauptgeschäftsführer des Rats für Formgebung, illustriert den Formbegriff und seine Bedeutung für das Design. Die Komponistin Gloria Coates entwickelt eine neue musikalische Form jenseits zwei-dimensionaler Tonhierarchien. Professor Tina Haase, Leiterin des Lehrstuhls für Bildende Kunst an der TU München, zeigt Zugänge zur Zeitgenössischen Kunst auf.

Natürliche und künstliche Intelligenz

Künstliche Intelligenz (KI) beherrscht längst unser Leben, ohne dass es vielen bewusst ist. Smartphones, die mit uns sprechen, Armbanduhren, die unsere Gesundheitsdaten aufzeichnen, Arbeitsabläufe, die sich automatisch organisieren, Autos, Flugzeuge und Drohnen, die sich selbst steuern, Verkehrs- und Energiesysteme mit autonomer Logistik oder Roboter, die ferne Planeten erkunden, sind technische Beispiele einer vernetzten Welt intelligenter Systeme. Sie zeigen uns, wie unser Alltag von KI-Funktionen bestimmt ist.

Alan Turing (1912–1954) definierte ein System dann als intelligent, wenn es in seinen Antworten und Reaktionen nicht von einem Menschen zu unterscheiden ist. Diese Entscheidung sollte durch Testfragen und Testaufgaben im sogenannten Turing-Test gefällt werden. Der Nachteil dieser Definition ist, dass der Mensch zum Maßstab gemacht wird.

Aber auch biologische Organismen sind Beispiele von intelligenten Systemen, die wie der Mensch in der Evolution entstanden sind und mehr oder weniger selbstständig Probleme effizient lösen können. Gelegentlich ist die Natur Vorbild für technische Entwicklungen. Häufig finden Informatik und Ingenieurwissenschaften jedoch Lösungen, die anders und sogar besser und effizienter sind als in der Natur. Es gibt also nicht die Intelligenz, sondern Grade effizienter und automatisierter Problemlösungen, die von technischen oder natürlichen Systemen realisiert werden können.

Daher nenne ich (in einer vorläufigen Arbeitsdefinition) ein System dann intelligent, wenn es selbstständig und effizient Probleme lösen kann. Der Grad der Intelligenz hängt vom Grad der Selbstständigkeit, dem Grad der Komplexität des Problems und dem Grad der Effizienz des Problemlösungsverfahrens ab – und diese Kriterien können wir messen. Bewusstsein und Gefühle wie bei Tieren (und Menschen) gehören nicht notwendig zu Intelligenz.

Hinter dieser Definition steht die Welt lernfähiger Algorithmen, die mit exponentiell wachsender Rechenkapazität (nach dem Mooreschen Gesetz) immer leistungsfähiger werden. Sie steuern die Prozesse einer vernetzten Welt im Internet der Dinge. Ohne sie wäre die Datenflut nicht zu bewältigen, die durch Milliarden von Sensoren und vernetzten Geräten erzeugt wird. Auch Forschung und Medizin benutzen zunehmend intelligente Algorithmen, um in einer wachsenden Flut von Messdaten neue Gesetze und Erkenntnisse zu entdecken.

Kürzlich schlugen Superrechner den Menschen in Schach (Deep Blue), in einem Frage- und Antwortwettbewerb (Watson) und in Go (AlphaGo). Superrechner, die das Gehirn simulieren sollen, würden heute die Energie des Walchenseekraftwerks verbrauchen, während menschliche Gehirne nur die Energie einer Glühlampe benötigen. In der Evolution wurde Leistungssteigerung der „natürlichen Intelligenz“ durch Steigerung der Vernetzungsdichte von immer mehr Neuronen mit „langsamen“ Synapsen auf empfindlicher „Wetware“ (zelluläres Gewebe + Neurochemie) energiesparend erreicht. In der Technik wurde Leistungssteigerung der „künstlichen Intelligenz“ durch Steigerung der Rechengeschwindigkeit und Speicherkapazität auf robuster „Hardware“ (z. B. Silizium + Halbleitertechnik) mit hohem Energieaufwand erreicht. Ziel könnte eine Konvergenz der evolutionären und technischen, analogen und digitalen Strategien in neuromorphen Computern sein, die technische Effizienz mit evolutionären Vorteilen (z. B. Energiesparsamkeit) verbindet.

Seit ihrer Entstehung ist die KI-Forschung mit großen Visionen über die Zukunft der Menschheit verbunden. Löst die künstliche Intelligenz den Menschen ab? Einige sprechen bereits von einer kommenden „Superintelligenz“, die Ängste und Hoffnungen auslöst. Dieser Text ist ein Plädoyer für Technikgestaltung: KI muss sich als Dienstleistung in der Gesellschaft bewähren.

Seit meinem Studium bin ich von den Algorithmen fasziniert, die künstliche Intelligenz erst möglich machen. Man muss ihre Grundlagen kennen, um ihre Leistungen und Grenzen abschätzen zu können. Erstaunlicherweise, das halte ich für eine wesentliche philosophische Einsicht, ändern noch so schnelle Supercomputer nichts an den logisch-mathematischen Grundlagen, die von menschlicher Intelligenz bewiesen wurden. Erst auf der Grundlage dieses Wissens lassen sich auch gesellschaftliche Auswirkungen bewerten. Diese Chance menschlicher Intelligenz sollten wir nutzen!

Was ist Form?

Der Begriff Form beschreibt zunächst die Begrenzung eines Volumens oder einer Masse im Raum. Aber die Form ist ein weites Feld, ein Begriff mit zahlreichen Deutungen aus unterschiedlichsten Kontexten. Für uns Designer ist er elementar, verstehen wir uns doch als Formgeber. Aber auch in unserer Disziplin ist das Verhältnis zur Form einige Male überdacht worden – im Grunde genommen von Anfang an.

Mit der Emanzipation der industriellen Formgebung von den Vorbildern zumeist handwerklich begründeter Gestaltungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Form ein zwingender Kontext verordnet: die Funktion. Eine Form habe, so hat es der Architekt Louis Henry Sullivan bereits 1891 formuliert, einer Funktion zu folgen, um sinnvoll zu sein. Zwar war die Funktion bei Sullivan noch ein sehr offener Begriff, zu der er alle organischen und anorganischen, alle physischen und metaphysischen, alle menschlichen und übermenschlichen Dinge, alle echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele zählte, doch gelang es den nachfolgenden Theoretikern der modernen Gestaltung, die Form über mindestens achtzig Jahre als logische Konsequenz eines rein technisch determinierten Funktionsbegriffs erscheinen zu lassen.

Im nahezu gesamten 20. Jahrhundert war es eine Art Ultima Ratio, dass die Form der Funktion zu folgen habe. In der inhaltlichen Beschneidung der Sullivanschen These auf die reine Aussage form follows function erhielt der Designbegriff des industriellen Zeitalters erst seinen Sinn. In unserem Jahrhundert ist es aber wesentlich sinnvoller, Sullivans These in seiner Gesamtheit zu lesen und zu verstehen: Alle echten Manifestationen des Kopfes, des Herzens und der Seele haben ihre Funktion und damit auch natürlicherweise immer eine Form, die sie angemessen zum Ausdruck bringt. Vom deutschen Designer Hartmuth Esslinger stammt denn auch ein Schlachtruf der Formgestaltung der Postmoderne: form follows fun.

Als Konsequenz der weltweiten Transformation der Ökonomie der Grundbedürfnisse hin zu einer vom Konsumenten und seinen differenzierten Bedürfnissen getriebenen Ökonomie der Möglichkeiten und der Begierden zu Beginn des industriell erwachenden 20. Jahrhunderts hat auch für die industrielle Formgebung ein Transformationsprozess begonnen. Im Zuge der abnehmenden Bedeutung der industriellen Produktion in den Wirtschaftssystemen der westlichen Gesellschaften und der damit einhergehenden zunehmenden Segmentierung der Märkte ist das im 20. Jahrhundert prägende Bezugssystem des Designs ins Wanken geraten. In der Folge muss sich die Disziplin Industrial Design mit der scheinbar unausweichlichen Entwicklung anfreunden, die wahrscheinlich mit der Memphis-Bewegung* im Design ihren Anfang nahm und mittlerweile für die meisten Konsumgüter prägend ist, nämlich derjenigen, Produktdesign zuallererst als Formalismus zu betrachten.

A German Gateway in Wrought Iron – Transportation Building
A German Gateway in Wrought Iron – Transportation Building
Quelle: C. D. Arnold, H. D. Higinbotham, Official Views Of The World’s Columbian Exposition (1893)

Während sich das Design im vergangenen Jahrhundert vor allem in der Abgrenzung gegenüber der Kunst als Disziplin zu definieren suchte, ist ihm das abgrenzende Gegenüber in den vergangenen zwanzig Jahren abhanden gekommen. Die früheren Antipoden Design und Kunst haben sich in den vergangenen Jahren aufeinander zubewegt und folgen in der Produktion und den Mechanismen der Märkte weitgehend den gleichen Regeln. Sei es, im Experiment mit Materialien, Formen und Verfahren einzigartige (nicht serielle) Ergebnisse zu erzielen, sei es im System der Vermarktung über Galerien, Messen und Auktionen. Wenn man das Wesen der Kunst als zweckfreie Forschung mit künstlerischen Mitteln zu beschreiben vermag, so kann diese Beschreibung genauso für das Design gelten. Denn es ist nur schwer argumentierbar, in der Form eines Stuhles, der aufgrund eines Briefings so ähnlich wie ein anderer Stuhl, doch anders als dieser sein soll, einen wirklichen Zweck zu sehen.

Die Form, die sich von den industriellen Bedingungen und den damit verbundenen physischen Anforderungen an die Dimensionen des Machbaren befreit hat, kann jede Gestalt annehmen. Die Frage nach der angemessenen Form für einen Gegenstand, die sich aus seiner Funktion erschließen sollte, hat sich überholt, seitdem sich tausende Funktionen auf Medien, deren Größe nur wenige Nanometer umfasst, speichern lassen.

Es gibt darüber hinaus für den Designer kein Verhaltens- oder Regelmuster mehr, das aus einer disziplinimmanenten Ideologie schöpft. Dennoch ist die Formgebung des 21. Jahrhunderts nur bedingt eine individualistische Angelegenheit. Formgebung agiert nach wie vor in einem stilistischen System, das, anders als in den Zeiten des Funktionalismus, pluralistisch und im Wesentlichen durch Fragestellungen gekennzeichnet ist, die einen ästhetischen Ausdruck, eine spezifische Formsprache geradezu implizieren: Es sind auf der einen Seite rein technologische Fragen, auf der anderen Seite Fragestellungen, die sich an populären oder elitären gesellschaftlichen Trends orientieren, an innovativen oder traditionellen Gesellschaftskonzepten. Sie sind Ausgangspunkte für die jeweilige Formulierung gruppenspezifischer Antworten und sie finden in diesen Antworten unterschiedliche, aber identifizierbare ästhetische Präferenzen. Es handelt sich dabei um stilistische Merkmale, die auf Langfristigkeit angelegt sind und deshalb jeden Entwurf durchdringen und sich damit scheinbar in einem stilistischen System verorten lassen. So verhalten sich diese Formsprachen wie die ästhetischen Leitbilder oder Visualisierungen parallel stattfindender und raumgreifender gesellschaftlicher Ideen.

A New Musical Form

Musical form is the overall structure of a piece of music composed of sound vibrations ordered in time. Form follows content.

With early mensural notation and Guido d’Arezzo’s contribution to notation, we began to think and analyze music as two-dimensional. Glancing through history, from the early plainsong to dance forms, part forms, polyphonic forms of canons, fugues, and the passacaglia, the rondo, variation, and developmental forms climaxing in the sonata allegro, we come to the cyclical and mixed forms of songs, operas, oratorios, masses and requiems. With the sonata, symphony, and concerto, Haydn, Beethoven, and Mozart brought the development of musical form to great heights.

The technical revolution of the 20th century split the atom and also the diatonic scale of the Western World into 12 equal parts (Dodecaphonic period) and then the ensuing microtones (Microtonal or Post Minimalist period). The early tape-recorded and electronic music had their own forms and further increased the microtonal palette. John Cage presented his Wallpaper Music of patterned sounds which were made to last indefinitely.

This important open form was further developed by Morton Feldman in his process music and Terry Riley’s minimalism. Finally, it was accepted that the forms of new music must have a beginning, middle and end … and one might even take out the middle!

Musical globalization had already begun in the early 20th century, and exotic instruments such as the gamelan, unusual scales, and ragas were woven into the old forms creating new formal combinations.

But wait! Wasn’t our definition of musical form the overall structure of a piece of music, which in its most abstract and true sense is the ordering of vibrations in time and space?

Are we not looking at music as if two-dimensional instead of realizing its three-dimensional properties?

Guidonian Hand Manuscript from Mantua, Bodleian Library (15 th century)
Guidonian Hand Manuscript from Mantua, Bodleian Library (15th century)

Have we not been duped by notation presenting musical forms as two-dimensional ever since the Middle Ages? Antiphonal forms can be found in early music onward to Vivaldi and William Billings and certainly the new music of today which uses the principles of acoustic form. These three-dimensional elements of form have become so highly complex with modern technical possibilities that they perhaps should be included as part of the definition of form or as a subsidiary part with the definition of musical form changed:

Musical form is the vibration of ordered sounds emanating from a sound source to project its raison d’être. With the technical explosion of methods to carry the sound source of music to increasingly greater masses of space and extensions of time and place, through the means of digital recordings and computer manifestations, we are now able to carry our musical world with us wherever we go, as for example with our iPods. Thus, we are living and moving about in a world of highly differentiated vibrations that includes those of musical acoustic forms, the new field for analysis.

Was ist Kunst?

Es gibt nur eine Frage, die noch schlimmer ist: Warum kostet Kunst so viel? Beide Fragen führen sonstwohin, nur nicht zur Kunst.

Kunsthandwerk, folkloristische Kunst, Streetart, Bastelkunst, Kinderkunst, Zeitgenössische Kunst – jeder Mensch ist ein Künstler, im Beuys’schen Sinne als Mitarbeiter an der Gesellschaft, als Soziale Plastik – Hobbykunst, Privatkunst, museale Kunst, Art Brut, Kochkunst – der Begriff Kunst ist nicht geschützt.

Ich nehme mal an – denn alles andere würde weniger Fragen aufwerfen – Sie wollen von mir wissen, was die Zeitgenössische Kunst ist.

Jedes zeitgenössische Kunstwerk gibt ein eigenes Bild dessen, was Kunst sein könnte. Jedes Kunstwerk beantwortet die Frage für sich selbst.

Im dem Moment, in dem Kunst definiert ist, ist sie bereits keine mehr, denn Kunst beschreibt einen offenen Prozess der Suche und ist damit in jedem Moment etwas anderes. Somit ist Kunst stark mit der Zeit verknüpft, innerhalb derer sie produziert und gelesen wird.

Seit die Kunst nicht mehr der Religion verpflichtet ist oder mit der reinen Abbildfunktion verwechselt wird, ist die Kunst einem grundlegenden Wandel unterzogen. Schon lange wird der Suche nach Wahrheit der Vorzug gegenüber der Suche nach Schönheit gegeben. Immer neue Möglichkeiten und Techniken der Wahrheitssimulation aber auch des Scheins im Dienste der Wahrheit entfalten sich.

Kunstwerke funktionieren nicht über das Erkennen, Wiedererkennen oder über kognitives Wissen (allein). Der Zugang zum Kunstwerk findet sich irgendwie – oder auch nicht – jedenfalls nicht nur über das Denken. Es ist ein Prozess des Herantastens und Erspürens – sogar ein lebenslanger Prozess.

Um die gestellte Frage anekdotisch zu beantworten: Im Zug traf ich einen Kunstsammler. Auf die Frage, welche Kriterien für ihn beim Sammeln wichtig seien, sagte er mir, er frage sich jedes Mal: Kann das fliegen?! Ich kann das gut verstehen. Für den einen ist es das Transzendieren, für den anderen die Erinnerung, für wieder jemand anderen ist es die Freude am Ungewissen oder die Freiheit. Für die Gesellschaft ist es eine produktive Quelle der Inspiration, der Reibung und der Erneuerung.

Jedes Kunstwerk verlangt nach seiner eigenen Technik. Es gibt keine Technik wie im Kunstgewerbe, womit die Kunst oft verwechselt wird. Kunstwerke können etwas öffnen, einen neuen Raum aufmachen. Dazu kann es helfen, so zu schauen wie ein Astronaut auf einem fremden Planeten. Kunst schafft diese neuen Sichtweisen, aus denen sich neue Visionen und Bilder entwickeln lassen. Im Kunstwerk fällt die Analyse mit dem visuellen Endergebnis zusammen: Die Analyse von einem Ausschnitt der Wirklichkeit, die wiederum (durch das Kunstwerk) eine neue Wirklichkeit in die Welt setzt.

Eine gute künstlerische Arbeit besteht nur zu einem Teil aus der genauen Beobachtung. Es kommt noch ein Teil Neues und Ungeahntes mit hinzu. Kunst beinhaltet immer das Wahrnehmen und Reflektieren über das eigene Sein und über die eigene Wahrnehmung. Die Kunst bedient sich der Freiheit und stellt sie her. Kunst stellt Fragen und legt Ahnungen, Assoziationen oder Gefühle frei. Sie verweigert eindeutige Lesbarkeit und verunsichert. Kunst ist Unsicherheit. Darin liegt ihre virtuelle, virulente, aber auch ihre visionäre Kraft. Im Kunstwerk kann die Person spürbar werden – genau genommen sind es zwei: die des Künstlers und die des Betrachters.

Um diesen Text persönlich zu beenden: Wenn ich schon weiß wie es geht, habe ich mein Ziel verfehlt. Als Künstlerin kann ich immer nur wieder von vorne anfangen.