Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Intelligenz, Formen und Künste
fatum 4 | , S. 65
Inhalt

Denken in der digitalen Nische

Viele Tiere sind hochspezialisierte, ökologische Ingenieure, die sich ihre eigene Umwelt innerhalb der Natur errichten. Biologen nennen dieses Phänomen „Nischenkonstruktion“. Tiere haben gegenüber einer Reihe von Umweltfaktoren wie Temperatur, Bodenbeschaffenheit oder Nahrungsangebot nur einen bestimmten Toleranzbereich. Nischenkonstruktionen ermöglichen es Tieren, eine dynamische und unsichere Umwelt aktiv zu gestalten und an ihr Verhalten und ihre Bedürfnisse anzupassen. Wenn Biber komplexe Dämme bauen, leiten sie die Belastungen der Natur auf ihre Konstruktion ab. Im Gegensatz zur rauen Umwelt begrenzt der Damm die Menge an Signalen, die Biber in der Nische „erwarten“ müssen. Relevante Signale können innerhalb dieser fixierten Konstruktion mit weniger Anstrengung und mehr Sicherheit (man könnte sagen „kostengünstiger“) gesammelt werden als außerhalb. Der Damm erzeugt somit eine epistemische Stabilisierung einer ansonsten unübersichtlichen Umgebung.

Betrachtet man im Vergleich dazu die menschliche Lebenswelt, so ist es schwer nur eine Nische zu bestimmen. Im Gegenteil, es fällt die breite Spanne an diversen Nischen auf, in denen Menschen ihr Leben verbringen können. Das Design unserer Nische lässt sich nicht auf einen einzigen Konstruktionstypus beschränken. Die menschliche Umwelt ist voller unterschiedlicher Artefakte, die unterschiedliche Arten von Nischen konstituieren. Aber was ist das für eine menschliche Fähigkeit, die es erlaubt, sich im Konstruieren zu generalisieren: Sich von bestimmten Materialien und Bauformen zu distanzieren, um wiederum Neues aufzubauen, zu kombinieren und weiterzuentwickeln? Warum können Biber komplexe Biberdämme bauen, aber diese Fähigkeiten nicht für das Fertigen von anderen Konturen, Linien und Mustern in der Umwelt anwenden?

Irgendwie müssen wir Menschen anders als andere Tiere mit der Umwelt kognitiv interagieren können, denn nur wir scheinen die Möglichkeit zu haben, Artefakte zu produzieren, die unterschiedliche Nischen konstruieren.

Der Philosoph und Biologie Kim Sterelny postuliert, dass Menschen Wahrnehmungen von der Umwelt entkoppeln und de-kontextualisieren können. Diese Entkopplung mentaler Wahrnehmungen bezeichnet Sterelny als tragbare mentale Repräsentationen.1 So können wir Eindrücke aus der Umwelt als Modelle wahrnehmen, mit uns mental herumtragen und in einen neuen Kontext einsetzen. Sterelny geht davon aus, dass tragbare mentale Repräsentationen selbst ein Produkt evolutionärer Entwicklungen sind: Der Entwicklungsprozess der mentalen Entkopplung und die Fähigkeit, technische Artefakte zu konstruieren, haben sich dabei gegenseitig bedingt. Wenn der Mensch ein Fischernetz baut, dann erzeugt er für sich dadurch auch ein mentales Modell von Fischernetzen als Typus.

Ein Fischernetz ermöglicht eine ökonomische Grundlage, die das Überleben sichern kann. Das Artefakt dient aber gerade auch als mentale Vorlage für die Entwicklung weiterer Artefakte. Mit dem Bau jedes Artefakts werden neue mentale Metaphern und Analogien ermöglicht, die wiederum als Modelle genutzt werden können. Sogenannte tools that make tools, wie beispielsweise ein Hammer, sind universell verwendbar und können nur von Menschen konstruiert werden, um damit andere Werkzeuge zu bauen. Der Hammer illustriert, wie die Entkopplung mentaler Repräsentationen und das Konstruieren von technischen Artefakten zusammenhängen: Er ist damit in erster Linie ein Denkartefakt, das genutzt werden kann, um die Nische auf unterschiedliche Art und Weise mit verschiedenen Artefakten zu konstituieren.

Doch was soll man sich unter der Entkopplung mentaler Repräsentationen für die Verwendung in verschiedenen Kontexten genau vorstellen? Die Komponenten der Entkopplung, wie sie Sterelny beschreibt, ähneln stark den Komponenten eines Modells, das in der Kognitionsforschung als Arbeitsgedächtnis (working memory) bezeichnet wird. Der bis heute am weitesten akzeptierte Vorschlag zur Charakterisierung des Arbeitsgedächtnisses ist das Mehrkomponentenmodell der beiden britischen Neuropsychologen Alan Baddeley und Graham Hitch.2 Das Modell beinhaltet unter anderem drei temporäre Informationsspeicherungsschleifen: Passiver Speicher, Artikulatorischer Kontrollprozess und der sogenannte räumlich-visuelle Notizblock. Der passive Speicher hält Sprachlaute für etwa zwei Sekunden in Erinnerung, bevor er sie verblassen lässt. Wenn Sie also nun diesen Satz lesen, dann können Sie sich noch gerade so an den Beginn eben dieses Satzes erinnern, wenn Sie am Ende ankommen (das sagt das Modell zumindest voraus). Der Großteil unserer sensorischen Wahrnehmungen verblasst also mehr oder weniger sofort. Durch den passiven Speicher können wir irrelevante Informationen gleich wieder loslassen, wie beispielsweise die soeben wahrgenommene Sitzpositionsveränderung unserer Banknachbarin im Vorlesungssaal. Soll Information aber gehalten werden, wie es bei der Entkopplung von tragbaren mentalen Repräsentationen der Fall ist, so sorgen der artikulatorische Kontrollprozess und der räumlich-visuelle Notizblock für eine Art interne Auffrischung von sprachlichen respektive räumlich-visuellen Wahrnehmungen. Baddeley und Hitch nennen das Rehearsal: Just bevor sich eine relevante Information aus den Fängen unseres Gedächtnisses lösen will, sorgen diese Komponenten für ein temporäres Zurückholen. Dies kann man ganz leicht an sich austesten, wenn man versucht, die Rechenaufgabe 27x6 im Kopf zu lösen (ohne technische Hilfsmittel!). Dabei kann man die sprachliche Auffrischung der einzelnen Einheiten der Aufgabe im Prozess des Lösens durch den artikulatorischen Kontrollprozess sehr gut bemerken. Das interne „Besprechen“ der einzelnen Komponenten der Aufgabe und das gleichzeitige Überblicken des „Wo-bin-ich-nun“ im Aufgabenprozess durch eine sogenannte zentrale Exekutive bilden das Arbeitsgedächtnis. Die Experimente von Baddeley und Hitch konnten zeigen, dass die meisten Menschen bis zu sieben unterschiedliche Informationseinheiten parallel bearbeiten können. Die Auffrischung durch die Informationsspeicherungsschleifen hält die Informationen für ein paar Minuten in Erinnerung. Unsere mentalen tragbaren Repräsentationen sind somit zeitlich und informationell limitiert.

A German Gateway in Wrought Iron – Transportation Building
Querschnitt eines Biberdamms
Quelle: USDA

Beide Begrenzungen können jedoch durch kognitive Rückkopplungen zum technischen Artefakt aufgehoben werden. Portable, mentale Repräsentationen werden auf ein Artefakt externalisiert. Dieses Prinzip, das von Andy Clark und David Chalmers im Jahr 1998 postuliert wurde, nennt man Extended Mind.3 Das Artefakt wird materiell bearbeitet, manipuliert, verändert, und so werden die bis hierhin internen Repräsentationen des Systems „Gehirn“ wiederum zurück auf das externe, nun epistemische Artefakt in der Umwelt übertragen. Die Entkopplung und Rückkopplung mentaler Repräsentationen durch die Konstruktion und Verwendung von technischen Artefakten hat mehrere Vorteile für die Nischenkonstruktion der Menschen; im Folgenden nenne ich drei davon. Erstens werden durch die Bearbeitung eines Materials interne Repräsentationen auf ein externes Material ausgelagert. So können erste Abstraktionen mentaler Prozesse stattfinden, wie zum Beispiel die Simplifikation schwieriger perzeptueller Probleme: Markierungen auf Stein- oder Holzoberflächen während deren Bearbeitung lagern die Auffrischung im Arbeitsgedächtnis auf diese externen Medien aus und speichern diese dort. Auf Schnitte oder Kerben können weitere epistemische Auslagerungen auf das Artefakt folgen und so können komplizierte kognitive Prozesse in der Interaktion mit dem Artefakt entstehen. Zweitens entwickeln sich Artefakte so zu öffentlichen Informationsträgern, die als Referenzpunkte für kooperative Aktivitäten verwendet werden können. Artefakte dienen dann als Informationsträger einer Gemeinschaft und helfen somit bei der komplexen Moderation und Koordination kollektiver Handlungen. Zugleich stellen sie ein Bindemittel zwischen Akteuren dar, die sich darauf verständigen, bestimmte Artefakte in einer bestimmten Art und Weise zu behandeln. Dadurch können Artefakte als integraler Bestandteil für die Entwicklung von Kultur fungieren. Drittens sorgen robuste Informationsträger auch für die Weitergabe der epistemischen Nische an die nächste Generation – der externe Informationsgehalt einer Population wächst also stetig – die Nische selbst vollzieht so eine epistemische Evolution.

Und heute? Heute ist unsere Nische plötzlich voller „smarter“ digitaler Artefakte, die kontinuierlich und automatisch Informationen empfangen, verarbeiten und verbreiten. Welche Auswirkungen haben digitale Artefakte auf die menschliche Fähigkeit, mentale Repräsentationen von Artefakten in der Umwelt zu entkoppeln und wieder auf die Artefakte zurück zu koppeln?

Zunächst entstehen viele informationelle Vorteile: In einer Nische voller vernetzter digitaler Artefakte wird die Rückkopplung, also die Auslagerung von Informationen, effektiver und robuster. Die externalisierte Information kann unabhängig von Raum und Zeit immer wieder aufgerufen werden. Durch Cloud Computing wird beispielsweise die Abhängigkeit von bestimmten Informationsträgern als Unikate vollkommen aufgelöst: Man kann Informationsträger zwar zerstören, die Informationen in der Cloud aber nicht. Im Gegensatz zu früheren analogen Informationsträgern, mit denen kognitiv rückgekoppelt werden konnte, stabilisieren digitale Artefakte den Informationshintergrund der Nische nicht mehr. Im Gegenteil: Sie dynamisieren ihn. Digitale Artefakte kommunizieren über Interfaces, die Aufmerksamkeit beanspruchen und Eingabeaufforderungen vermitteln. Die permanente Auslagerung von Informationen in eine digitale Nische könnte dazu führen, dass epistemische Artefakte nicht mehr zwingend die informationelle Langlebigkeit haben, die benötigt wird, um mentale Repräsentationen von diesen Artefakten entkoppeln zu können. Die einzige Konstante meines Smartphones ist die kontinuierliche informationelle Veränderung des Artefakts selbst.

Begründer des Ubiquitous Computing wie beispielsweise der bereits verstorbene US-Computerpionier Mark Weiser haben sich eine Welt voller vernetzter Geräte anders vorgestellt: Sie sprachen von Calm Technology – die Interaktion mit digitaler Technologie in unserer Nische sollte so entspannend sein wie ein Spaziergang durch den Wald.4 Doch die kontinuierliche informationelle Destabilisierung der Nische durch digitale Prozesse sprengt die Möglichkeiten menschlicher Informationsverarbeitung und kreiert Ungewissheit – auch durch permanente Erwartungsmechanismen. Die Digitalisierung von kognitiven Auslagerungen läuft darin wider ihren eigentlichen Zweck. Unter der Bedingung, dass digitale Technologie überhaupt die Beständigkeit erfüllt, die nötig ist, um für menschliche Kognition evolutionär relevant zu sein, würden Menschen mit der Zeit vielleicht effektiver gleichzeitig verschiedene Informationsquellen integrieren können. Natürlich würde dies überhaupt voraussetzen, dass das parallele Verarbeiten von mehreren unterschiedlichen Informationskanälen langfristig einen direkten evolutionären Vorteil mit sich bringt. Die andere Option wäre wiederum technisch: Menschen entwickeln hierfür eine Technologie, die diese Aufgabe übernimmt, zum Beispiel in Form eines Chips im Gehirn, der Informationen vorsortiert. Der Chip würde dem Gehirn, entsprechend unserer informationellen Kapazitäten, Informationen häppchenweise verabreichen.

Die technische Entwicklung zeigt eher in letztere Richtung: Apps wie SelfControl, Adblocker oder The Skimm finden immer mehr Nutzer. Sie versuchen, den Informationsfluss digitaler Prozesse mit den Möglichkeiten menschlicher Informationsaufnahme zu vereinen. Sie schließen spezifische Informationen aus der Nische aus, verhindern unseren Zugang zu diesen oder fassen diese in kleinere Einheiten zusammen. Vielleicht ist das der Beginn der informationellen Re-Stabilisierung unserer digitalen Nische, die wir so wieder aktiver an unser Denken adaptieren können.


  1. Sterelny, Kim, The evolved apprentice (Cambridge: MIT press, 2012).
  2. Baddeley, Alan, Working memory: theories, models, and controversies. in Annual review of psychology 63 (2012), 1–29.
  3. Clark, Andy, and David Chalmers. The extended mind. in analysis 58.1 (1998): 7–19.
  4. Weiser, Mark. The computer for the 21st century. in Scientific American 265.3 (1991): 94–104.

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