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fatum 1 | , S. 17
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Die Motive der Macht

Gesellschaftliche Strukturen und Prozesse werden von vielen Menschen durch zahlreiche Faktoren bestimmt und geformt. Ständig tauchen im komplexen sozialen Gefüge Machtbeziehungen auf, gemäß denen die Menschen handeln. Für das Verständnis dieser Beziehungen reicht es nicht, nur eine abstrakte Erläuterung der Macht zu geben. Man muss die wirkliche Essenz der Macht suchen, die Art und Weise, wie sie verursacht wird und die Bedingungen, die sie steuern.

Nach Max Weber bedeutet [Macht] jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht (S. 28, 1922). Wenn von einem Machtverhältnis die Rede ist, gibt es also Akteure, die Macht ausüben und Akteure, die der Macht, oft gegen ihren eigenen Willen, ausgesetzt sind. Die Erläuterung der Motive, die die Agenten haben um eine solche Beziehung zu gestalten, ist der Schlüssel für eine Deutung der Macht. Nicht zuletzt sind diese Motive stark mit der menschlichen Natur und Psyche gekoppelt. Akzeptiert man dies, kann man von abstrakten Werten, Idealen und rationalem Denken als Grundlage menschlicher Entscheidungen absehen und an ihre Stelle basale Instinkte und unbewusste Bedürfnisse des Menschen setzen, welche die eigentlichen treibenden Kräfte für die Entstehung der gesellschaftlichen Relationen und Änderungen in Machtbeziehungen sind.

Für die Identifizierung und Analyse der Motive der Macht ist zunächst die Untersuchung von einfachen Case Studies hilfreich. Durch Fallbeispiele werden die Voraussetzungen der Entstehung einer Machtbeziehung fassbar dargestellt und können dann zur Erklärung komplexerer gesellschaftlicher Strukturen dienen.

Ein typischer Fall dafür, wie Macht funktioniert, wird in der Biografie von Sun Zi, dem Autor der alt-chinesischen Abhandlung „Die Kunst des Krieges“ (1910) beschrieben. Ho Lu, König der chinesischen Region Wu, bat Sun Zi um eine Demonstration seiner Theorie des Krieges anhand von 180 Palastfrauen als fiktiven Soldatinnen. Der König versprach Sun Zi bei einer überzeugenden Präsentation zum General zu ernennen.

Sun Zi teilte die Frauen in zwei Gruppen auf, wählte jeweils eine Frau als Anführerin jeder Gruppe aus und zeigte ihnen die grundsätzlichen Militärmanöver. Dann befahl er den Frauen sich nach links zu bewegen, was bei diesen jedoch nicht mehr als Lachen auslöste. Nun gab Sun Zi Befehl, sich nach rechts zu bewegen, aber die Palastfrauen brachen wieder in Lachen aus. Deswegen erteilte er den Befehl die zwei Anführerinnen zu köpfen. Der König war negativ überrascht, dass er zwei seiner Frauen verlieren würde und gebot Sun Zi von dieser Entscheidung Abstand zu nehmen. Sun Zi ignorierte jedoch den Befehl des Kaisers. Die zwei Frauen wurden geköpft und zwei andere Frauen wurden als Anführerinnen aufgestellt. Nach diesem Exempel führten die Frauen alle Militärmanöver perfekt aus.

In dieser Geschichte befinden sich Sun Zi und die Frauen in einer klassischen Machtbeziehung nach Max Weber: Sun Zi möchte seinen Willen gegen den Willen der Frauen durchsetzen. Am Anfang schafft er das nicht, weil die Frauen kein Motiv dafür haben, die Macht Sun Zis zu akzeptieren. Nach der Hinrichtung der zwei Frauen wird die Angst und im Zuge dessen das Motiv zum Überleben aktiviert. Deswegen ertragen sie schließlich die Macht von Sun Zi, die sich wiederum aus dem Motiv, General zu werden, speist.

Was aus diesem Beispiel ersichtlich wird, ist, dass es für die Realisierung einer Machtbeziehung notwendig ist, dass auf beiden Seiten der Macht Motive auftreten: Nicht nur derjenige, der Macht ausübt, wird von Motiven angetrieben, auch derjenige, der Macht erleidet, muss einen Grund haben – ein Motiv – um die Macht des anderen anzuerkennen. Deutlich wird dies am wechselhaften Machtverhältnis zwischen Sun Zi und Ho Lu. Am Anfang übt der König Macht auf Sun Zi durch seine Aufforderung aus. Er hat das Motiv, einen sehr guten General zu gewinnen und Sun Zi das Motiv, Anstellung zu finden. Die Beziehung wird aber umgekehrt, da der König letztendlich die Macht von Sun Zi gegen seinen Willen erträgt - er verliert zwei seiner Frauen, um sein Motiv zu verwirklichen.

Die Natur der Motive der Macht wird in dem bekannten Melierdialog von Thukydides (S. 792–811) präzise präsentiert. Während des Peloponnesischen Krieges wollten die Athener die Melier unterwerfen. Letztere waren früher eine Kolonie Spartas, des Feindes von Athen, bewahrten aber trotzdem Neutralität im Krieg. Die Athener boten den Meliern die Möglichkeit zur friedlichen Kapitulation an – also die Entstehung einer Machtbeziehung, in der jeder etwas zu gewinnen hätte: Weil ihr, statt das Entsetzlichste zu leiden, euch unterordnen dürftet und wir, wenn wir euch nicht vertilgen, dabei gewönnen. Andernfalls würden sie gegen die Melier Krieg führen. Die Athener argumentierten, dass sie keine andere Wahl als Annexion oder Vernichten hätten, weil die Ausübung ihrer Macht - und die Entstehung von Machtbeziehungen im Allgemein - aus der Natur des Menschen folgt. Sie stellten fest: daß im menschlichen Verhältnis Recht gilt bei Gleichheit der Kräfte, doch das Mögliche der Überlegene durchsetzt, der Schwache hinnimmt und daß alles Menschenwesen allezeit nach dem Zwang seiner Natur, soweit es Macht hat, herrscht. Wir haben dies Gesetz weder gegeben noch ein vorgegebenes zuerst befolgt, als gültig überkamen wir es. Rational wäre es von den Meliern gewesen, den Vorschlag der Athener zu akzeptieren. Hilflos gegen eine der zwei größten Militärkräfte im griechischen Raum zu kämpfen sollte tragische Folgen haben. Dennoch haben sie sich zum Kämpfen entschlossen und wurden im Ergebnis vernichtet. Ihre Entscheidung lässt sich aber nicht auf höhere Ideale oder auf die Tapferkeit, in der Schlacht zu fallen, zurückführen. Es wurden Motive des Überlebens, basale Bedürfnisse, aktiviert. Der Mensch ist ein territoriales Lebewesen. Jede Bedrohung seines Territoriums bedeutet eine Bedrohung seines Überlebens. Die Melier wussten, dass sie keine Kontrolle mehr über ihr eigenes Leben haben würden, wenn sie unterworfen würden. Im Falle einer Kapitulation hätten sie sowieso jeden Moment von den Athenern vernichtet werden können. Der Vorschlag der Athener trug dieser existenziellen Angst in keiner Weise Rechnung.

Auf der anderen Seite haben die Athener ihren Angriff mit klaren Motiven rechtfertigt. Sie wollten Sicherheit (So würdet ihr außer der Mehrung unsrer Herrschaft uns auch noch Sicherheit bringen) und Stärke in den Augen der eigenen Athener Untertanen (wie daß Freundschaft ein Schwächezeichen, Haß eines der Stärke bei unsern Untertanen bedeutet) gewinnen. Sicherheit ist ein grundsätzliches menschliches Bedürfnis und ist stark mit dem Überlebensdrang verbunden, während die Stärke als ein Zeichen für die effektive Vermeidung von Bedrohungen gegen die Sicherheit wirksam ist. Mit ihrer Rechtfertigung implizieren die Athener die These, dass Machtbeziehungen aus einer endlosen Gier des Menschen, seine Basis-Bedürfnisse zu saturieren, stammen.

Fast jede menschliche Handlung wird von Motiven begleitet. Auf den ersten Blick variiert die Art der Motive – manche beziehen sich auf ein praktisches oder ideologisches Ziel, manche richten sich auf die basalen Bedürfnisse des Lebewesens. Aber in Wirklichkeit kann man auch diese praktischen oder ideologischen Ziele auf basale menschliche Bedürfnisse, die entweder intuitiv oder unbewusst funktionieren, zurückführen und reduzieren. Sun Zi möchte General werden - ein praktisches Ziel -, weil diese Stelle ihm Sicherheit, Erfüllung seiner physiologischen Bedürfnisse und Selbstverwirklichung bietet. Die Melier haben letzten Endes nicht wegen ihrer Werte oder ideologischer Ziele gegen Athen gekämpft, sondern um ihre Selbstbestimmung und damit ihr langfristiges Überleben zu verteidigen.

Eine Hierarchie von basalen Bedürfnissen und höherstufigen Bedürfnissen hat bereits A.H. Maslow (1943, 370–96) vorgeschlagen. Grundlegende Bedürfnisse sind physiologisch, dann folgen aufsteigend Sicherheit, die sentimentale Erfüllung, das soziale Ansehen und die Selbstverwirklichung. Es ist nicht notwendig, dass ein Akteur Motive für die Befriedigung von Bedürfnissen höherer Ordnung entwickelt, wenn alle seine grundlegenden, basalen Bedürfnisse bereits erfüllt sind. Je elementarer ein Bedürfnis ist, desto grösser ist seine Treibkraft und desto eher lässt sich durch seine Ausnutzung eine Machtbeziehung verwirklichen. Das Motiv zum Überleben ist das einflussreichste, um Macht auszuwirken oder sie zu ertragen. Wer es schafft, Kontrolle über das Leben eines anderen zu gewinnen, gewinnt über ihn automatisch Macht.

Eine Theorie der Entstehung von Macht basierend auf den Motiven menschlichen Handelns deckt sich sehr gut mit Einsichten von Michel Foucault (S. 92–102, 1978) über Funktion und Wesen der Macht. Im sozialen Kontext, hat Foucault festgestellt, kommt Macht „aus allem“ und ist allen menschlichen Beziehungen „immanent“; jede Interaktion von Motiven verursacht eine Machtbeziehung. Deswegen ist Macht „lokal“ und „instabil“, wie im Fall der Beziehung von Ho Lu und Sun Zi. Macht „kommt von unten“, weil die Abwesenheit eines tieferliegenden Motivs der Machtsubjekte die Machtbeziehung zerstört. Weil die Motive die Grundlage der Machtbeziehungen sind, kann es keine Macht ohne „Absichten“, „Ziele und Objektive“ geben. Macht ist von „Taktiken“ und „Strategien“ charakterisiert, die der einzelne Akteur sich aneignen muss, will er mit der Komplexität der Summe der Machtbeziehungen in einer bestimmten gesellschaftlichen Situation und der konstanten Veränderung der Motive der Akteure in der Mikroebene fertig werden. Wenn ein Akteur sehr erfolgreich solche Strategien anwendet, wie Diktatoren, die über Jahrzehnte lang herrschen, kann es manchmal so scheinen, als ob es etwas wie eine globale und stabile Macht gäbe. In Wirklichkeit basiert selbst die Macht langjähriger Despoten auf einem fragilen Äquilibrium in der Gesamtheit lokaler, in sich instabiler Machtbeziehungen. Voraussetzung dafür, dass so ein Balanceakt zwischen Machtbeziehungen, die stets individuell und daher heterogen sind, überhaupt möglich wird, ist, dass die Machtbeziehungen, auf die man sich stützt „keine Diskontinuität“ zu eigenen Interessen aufweisen. Die Taktiken, die man anwendet, um sich innerhalb des Wirrwarrs an Machtbeziehungen zu behaupten, müssen also letztendlich tatsächlich zum gewünschten Ergebnis führen und es schaffen, die Macht der anderen der eigenen Macht unterzuordnen.

Ein Instrument, um Macht zu projizieren und die „Kontinuität“ des Handelns anderer mit den eigenen Interessen sicherzustellen, ist Gewalt. Mit dem Einsatz von Gewalt mobilisiert ein Akteur in anderen Akteuren das basale Bedürfnis des Überlebens und zwingt sie dadurch zur Anerkennung der eigenen Macht. Freilich gibt es auch Machtbeziehungen ohne Gewalt.

Gewalt erscheint jedoch als das radikalste Mittel für die Ausübung von Macht, weil sie das kardinale basale Bedürfnis des Überlebens berührt. Umso heftiger sind die Reaktionen, die der Einsatz von Gewalt verursachen kann. Dies ist auch der Grund, wieso eine breite, aber ineffektive Anwendung von Gewalt zu Aussetzung und Verlust von Macht führen kann.

Nietzsche erkennt, dass in Machtbeziehungen bestimmte Motive wirken, geht aber noch weiter und reduziert alle menschlichen Absichten auf das Motiv der Mehrung von Macht (Abs. 633, 1968). Für ihn gibt es eine treibende Gier in jeder Person, einen Willen zur Macht (Abs. 619). Aus dieser Gier stammen für ihn alle grundlegenden menschlichen Bedürfnisse. Konkret argumentiert er, dass die Lebens-Erhaltung (das Überleben, das grundlegende Bedürfnis) eine Konsequenz der Ausübung von Macht ist (Abs. 650). Die Ausübung der Macht ist also die Voraussetzung für die Befriedigung aller menschlicher Bedürfnisse. Für eine angemessene Analyse der Macht basierend auf Motiven scheint der Ansatz Nietzsches zu reduktionistisch zu sein. Der Melier-Dialog zeigt, entgegen Nietzsches Position, dass auch das Ertragen von Macht Bedürfnisse befriedigen kann – die verbleibenden Palastfrauen Ho Lus haben den Befehlen Sun Zis gehorcht, um ihr basales Bedürfnis des Überlebens zu sichern, und nicht so zu enden wie die zwei geköpften Mätressen. Geht man anders als Nietzsche davon aus, dass ein Akteur mehrere und komplexere Handlungsmotive haben kann, ist die metaphysische Vorstellung eines Zwangs und „Willens zur Macht“ zurückzuweisen.

Die Aufklärung der möglichen Motive von Akteuren in einer Machtbeziehung würde zu einem besseren Verständnis der Funktion von Macht führen und einen wesentlichen Beitrag zur philosophischen Erforschung der Natur von Macht ausmachen. Eine solche Analyse führt zu einem Konzept der Macht, das weit entfernt von metaphysischen oder rein theoretischen Vorstellungen liegt. Erst mit einem solchen Machtkonzept lassen sich komplexe soziale Interaktionen und Änderungen sachbezogen beschreiben. Ein derartiger Begriff der Macht ist notwendig, um nicht nur erklären zu können, wie Machtbeziehungen sich entwickeln, sondern auch die Gründe aufzudecken, warum Macht ihre jeweiligen Ausgestaltungen annimmt. Für eine solch ausführliche Analyse der Motive der Macht benötigt man natürlich umfangreiche Untersuchungen des menschlichen Verhaltens, seiner psychologischen Gestalt und aller Faktoren, die eine Wirkung auf die menschliche Natur und auf die sie bestimmenden Bedingungen einer Situation haben. Mit einer präzisen Erklärung menschlicher Handlungsmotive stünde eine Erklärung der Macht ebenso in Aussicht wie ein kritischer Einblick in die Entstehung der massiven gesellschaftlichen Strukturen und des Verhaltens von Menschen, Gruppen und Gesellschaften.

Literatur

Foucault M. „The History of Sexuality“. Volume 1, Pantheon Books, New York, (1978) S. 92–102

Maslow, A.H. „A theory of human motivation”. Psychological Review, 50(4) (1943) S. 370–96

Nietzsche F. „The Will to Power“, New Translation By Walter Kaufmann And R. J. Hollingdale Edited, With Commentary, By Walter Kaufmann With Facsimilies Of The Original Manuscript, Vintage Books, New York (1968)

Sun Tzu. „The Art of War“, The Oldest Military Treatise in The World, Translated from the Chinese with Introduction and Critical Notes By Lionel Giles, M.A. Assistant in the Department of Oriental Printed Books and MSS. in the British Museum (1910)

Thukydides. „Geschischte des Peloponnesischen Krieges“ in „Geschichte des Peloponnesischen Krieges griechisch-deutsch“, übers. Und mit einer Einf. Und Erl. Vers. Von G.P. Landmann, Artemis & Winkler Verlag (1993), S. 792–811

Weber M. „Wirtschaft und Gesellschaft“, in „Grundriss der Sozialökonomik“ 3. Abteilung, Verlag Von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) (1922) S. 28


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