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fatum 1 | , S. 21
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Wie wissen­schaft­lich sind die Ingenieur­wissen­schaften?

Philosophie und Ingenieurwissenschaften

Philosophie und Ingenieurwissenschaften – wie passt das zusammen? Auf der einen Seite der vermeintlich weltferne Denker – auf der anderen Seite der Praktiker, der an der Lösung der kleinen und großen Probleme des täglichen Lebens tüftelt. Beim Zusammenspiel der beiden Fächer werden die meisten an ethische Fragen denken, etwa ob man Robotern Persönlichkeitsrechte zugestehen soll oder ob der Ausstieg aus der Kernenergie sinnvoll ist.

Ich möchte im Folgenden an einem Beispiel zeigen, dass auch die Wissenschaftstheorie, die sich mit den Prinzipien und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis auseinandersetzt, in einen fruchtbaren Dialog mit den Ingenieurwissenschaften treten kann. Sicher kann sie nicht im Alleingang methodische Fragen klären. Aber durch den Blick über die Fächergrenzen und durch historische Kompetenz kann sie eine zusätzliche Perspektive eröffnen, etwa wenn es um das nach wie vor ungelöste Problem geht, was für eine Art von Wissenschaft die Ingenieurwissenschaften überhaupt darstellen (Poser 2012, 312). Solche Fragen sind nicht zuletzt dann relevant, wenn es um die Gestaltung von Curricula geht, beispielsweise darum, wie viel Naturwissenschaften ein Ingenieur eigentlich lernen sollte.

Nur angewandte Naturwissenschaften?

Eine weit verbreitete Vorstellung sagt, dass die Ingenieurwissenschaften angewandte Naturwissenschaften seien. So liest man etwa in der aktuellen Online-Ausgabe der Encyclopedia Britannica, Ingenieuren ginge es um die Anwendung von Wissenschaft mit dem Ziel der besten Verwertung der natürlichen Ressourcen für menschliche Zwecke1Bereits in den 1940er Jahren definierte das American Engineers Council for Professional Development, eine Art Dachorganisation ingenieurwissenschaftlicher Fachgesellschaften, in ganz ähnlicher Weise: [T]he creative application of scientific principles to design or develop structures, machines, apparatus, or manufacturing processes, or works utilizing them singly or in combination; or to construct or operate the same with full cognizance of their design; or to forecast their behavior under specific operating conditions; all as respects an intended function, economics of operation or safety to life and property.2 Demzufolge muss man also nur die Physik und vielleicht noch ein wenig Biologie und Chemie ausreichend verstehen, schon hält man den Schlüssel zur Lösung technischer Probleme in der Hand.

Dass es so einfach nicht sein kann, lässt sich leicht einsehen. Besonders problematisch ist, dass die genannte These eine Hierarchie zwischen Ingenieur- und Naturwissenschaften impliziert, die den Ingenieur zum reinen Handlanger degradiert. Man muss kein Ingenieur sein um zu erkennen, dass diese Vorstellung der wissenschaftlichen Praxis kaum gerecht wird.

Ein wichtiges Argument bezieht sich auf die Technikgeschichte. Wenn die These von der angewandten Naturwissenschaft stimmen würde, dann sollte die Ausarbeitung der theoretischen Grundlagen immer der ingenieurwissenschaftlichen Verwertung vorausgehen. Manchmal verhielt es sich tatsächlich so. Zum Beispiel beruhen Ortungssysteme wie das GPS entscheidend auf den Erkenntnissen der Relativitätstheorie. Atomkraftwerke wären ohne die Entdeckung und theoretische Einordnung der Kernspaltung durch Lise Meitner und Otto Hahn kaum vorstellbar. Allerdings gibt es auch jede Menge Gegenbeispiele zu dieser theoriezentrierten Sichtweise: So wurden die ersten in großem Stil eingesetzten Dampfmaschinen bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts entwickelt und haben die industrielle Revolution befeuert, lange bevor Rudolf Clausius die theoretischen Grundlagen thermodynamischer Kreisprozesse formulierte. Und selbst Clausius ging dabei noch von der heute widerlegten Vorstellung aus, dass Wärme eine Art Stoff sei. Nach der klassischen theoriezentrierten Wissenschaftssicht ist es zumindest überraschend, dass man sich thermodynamische Phänomene zunutze machen kann, ohne überhaupt die grundlegende Natur von Wärme als Bewegung verstanden zu haben. Ein anderes Beispiel betrifft die vielfältigen metallverarbeitenden Verfahren, mit denen Menschen seit Jahrtausenden immer leistungsfähigere Werkstoffe herstellen und die größtenteils entwickelt und verfeinert wurden bevor es überhaupt eine Alchemie gab, geschweige denn die moderne Chemie. Die theoretische Begründung vieler metallurgischer Technologien aus ersten Prinzipien ist selbst mit unserem heutigen Wissen erst ansatzweise gelungen.

Ein Verfechter der These von der angewandten Naturwissenschaft könnte nun vielleicht einwenden, dass unsere experimentierfreudigen Vorfahren oder die Erfinder der ersten Dampfmaschinen wie der englische Schmied und Eisenwarenhändler Thomas Newcomen eben keine richtigen Ingenieure waren. Aber was waren sie dann? Mit ihren bahnbrechenden Einfällen waren sie sicher keine reinen Handwerker. Auch beruhten ihre Entdeckungen in den seltensten Fällen auf reinem Zufall, vielmehr zeichnete sich ihr Vorgehen durch eine ausgeklügelte Systematik aus, die sich von der moderner Ingenieure kaum unterscheidet. Wenn man die Ingenieurwissenschaften einfach so definiert, dass sie theoretisches Wissen zur Anwendung bringen, müsste man auch in heutiger Zeit noch eine Vielzahl technischer Errungenschaften ausschließen. Beispielsweise werden Hochtemperatursupraleiter vielerorts erfolgreich eingesetzt, obwohl es bis heute keine allgemein akzeptierte physikalische Theorie für dieses Phänomen gibt.

Die Wissenschafts- und Technikgeschichte liefert also genügend Anhaltspunkte, dass Ingenieure nicht nur Erkenntnisse der Naturwissenschaftler zur Anwendung bringen. Neben der historischen Abfolge hat die These von der angewandten Naturwissenschaft noch eine weitere unrealistische Konsequenz. Demnach dürften die Ingenieurwissenschaften kein eigenständiges Gesetzeswissen aufweisen. Das in den Ingenieurwissenschaften angewandte Wissen sollte vielmehr vollständig naturwissenschaftlich begründbar sein.

Ein Anhaltspunkt, welch riesige Lücke zwischen Anspruch und Realität klafft, sind Kompendia wie der VDI-Wärmeatlas. Auf knapp zweitausend Seiten werden dort Konstanten und Formeln, Grafiken und Tabellen für alle nur denkbaren Problemstellungen gelistet: Von den Stoffwerten und Zustandsgrößen verschiedener Materialien bis hin zu den Energieverhältnissen des Wärmeübergangs bei Kondensation. Weil sie, zumindest derzeit, nicht theoretisch ableitbar sind, handelt es sich bei diesen empirischen Regularitäten und Näherungsformeln um eigenständige Gesetzmäßigkeiten. Diese interessieren den Physiker allenfalls am Rande, weil sie für Grundlagenfragen weitgehend irrelevant sind. Für das ingenieurwissenschaftliche Handwerk hingegen sind sie unverzichtbar. Zusammenstellungen wie der Wärmeatlas sind damit im doppelten Sinne ein gewichtiger Beweis dafür, dass die Ingenieurwissenschaften eigene Gesetzmäßigkeiten besitzen, deren Ableitbarkeit aus ersten Prinzipien im besten Fall ein auf lange Sicht uneinlösbares Postulat darstellt.

Nun sind diese ingenieurwissenschaftlichen Gesetze aber von einer ganz anderen Art als die grundlegenden Prinzipien, die man aus der Physik kennt. Sie erheben beispielsweise nicht den Anspruch allumfassender Gültigkeit, den physikalische Axiome wie das Trägheitsgesetz einfordern. Stattdessen sind sie sehr stark auf einen Anwendungskontext zugeschnitten, gelten eben nur für ein spezielles Material oder eine bestimmte Form der Wärmeübertragung. Und dann sind es oft nur Näherungen, die für die beabsichtigten Anwendungen eben gut genug sind. Die Gesetze der Physik, wie die Schrödingergleichung der Quantenmechanik, sollen hingegen immer und überall gelten, auch in exotischen Situationen, und sie sollen die quantitativen Verhältnisse exakt wiedergeben. Zumindest zum Teil ist es eine offene Frage der Wissenschaftstheorie, worin genau der unterschiedliche Charakter besteht zwischen phänomenologischen Gesetzen, wie sie die Ingenieurwissenschaften prägen, und theoretischen Axiomen, beispielsweise in der Physik.

Die Finalisierungsthese

Derartige Einwände haben schon in den 1970er Jahren dazu geführt, dass gar nicht weit von München in Starnberg, am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt, die Vorstellung von der angewandten Naturwissenschaft weiterentwickelt wurde zur Finalisierungsthese: The term applied science gives the misleading impression that goal-oriented science simply involves the application of an existing science, rather than the creation of a new theoretical development. This in turn feeds the misconception that pure science is superior to applied science (Krohn & Schäfer 1983, 46). In der Finalisierungsphase wird die zuvor entwickelte Theorie zur Zweckforschung genutzt und dabei für viele Anwendungsbereiche spezialisiert, differenziert und ergänzt (Böhme et al. 1973, 135).

Der Ansatz löst einen Teil der geschilderten Probleme, insbesondere unterstreicht er den Perspektivwechsel, der durch die Anwendungs- und Zweckorientierung zustande kommt. Auch bestreitet er eine klare Hierarchie zwischen den verschiedenen Wissenszweigen. Er gesteht den Ingenieurwissenschaften eigene Gesetzmäßigkeiten zu, wird aber letztlich wenig konkret, von welcher Art diese tatsächlich sind. Die anderen im vorigen Abschnitt diskutierten Einwände bleiben dagegen weitgehend bestehen, insbesondere das Problem der historischen Abfolge, denn die Finalisierungsphase kann ebenfalls nur auf einer bereits vollständig entwickelten Theorie aufbauen. Überhaupt impliziert die Finalisierungsthese eine stark theoriezentrierte Sicht auf Wissenschaft, die kaum dem pragmatischen und stark empiristischen Zugang der Ingenieurwissenschaften entspricht.

Das Max-Planck-Institut in Starnberg ist damals nach einer kurzen Lebensdauer von knapp über zehn Jahren gescheitert – am eigenen Anspruch die großen gesellschaftlichen Probleme der Zeit anzugehen, aber auch an den Hürden und Hindernissen interdisziplinärer Forschung, die sich nicht zuletzt in den konträren Forscherpersönlichkeiten der beiden Direktoren widerspiegelten, des Philosophen und Sozialwissenschaftlers Jürgen Habermas und des Physikers Carl Friedrich von Weizsäcker. Die Episode bleibt ein Mahnmal für all jene, die auch heute noch das Wort Interdisziplinarität gerne in Sonntagsreden in den Mund nehmen, von den tatsächlichen Verwerfungen interdisziplinärer Forschung aber häufig wenig Ahnung haben – vielleicht auch, weil in der Spezialisierungsspirale des Wissenschaftsbetriebs für metatheoretische Fragen kaum noch Raum bleibt. Trotz aller Kritik war das Institut zumindest ein Ort, an dem solche Themen noch diskutiert werden konnten. Und die Finalisierungsthese bleibt ein wichtiger Beitrag zur Debatte.3

Wider das reduktionistische Dogma

Trotzdem bleibt es eine bis heute ungelöste Frage, in welchem Verhältnis Ingenieur- und Naturwissenschaften tatsächlich zueinander stehen. In der Philosophie ist das häufig ein Hinweis darauf, dass das Problem tiefer liegt. Möglicherweise gibt es weltanschauliche Annahmen, die stillschweigend vorausgesetzt und nicht weiter hinterfragt werden. Dafür möchte ich im Folgenden argumentieren und in groben Zügen einen Lösungsansatz skizzieren.

Die These von der angewandten Naturwissenschaft wäre plausibel, wenn der erklärungstheoretische Reduktionismus wahr wäre, also die Annahme, dass sich alle Phänomene auf wenige fundamentale Naturgesetze zurückführen lassen. Dieses über die Jahrhunderte lieb gewonnene Ideal hat in der Vergangenheit nicht selten seine Schlagkraft bewiesen – immer wenn die Vereinheitlichung verschiedener Wissenszweige gelang, beispielsweise als die makroskopischen Gasgesetze auf die mechanische Interaktion kleiner Teilchen zurückgeführt werden konnten oder als vielfältige elektrische und magnetische Phänomene aus nur vier Maxwellschen Gleichungen abgeleitet werden konnten. Solche Erfolge haben Mut gemacht, das reduktionistische Programm auch außerhalb von Physik und Chemie anzuwenden. Lange hoffte die Biologie auf ihren Newton des Grashalms, aber auch Darwin konnte diesem Anspruch letztlich nicht gerecht werden. Zu beschränkt ist der Anwendungsbereich der Evolutionstheorie in Anbetracht der Vielfältigkeit biologischer Phänomene. Gesellschaftswissenschaftler im 19. Jahrhundert träumten von einer Sozialphysik, aber auch hier verlief die Suche nach fundamentalen Prinzipien im Sande. Und selbst in der Physik hört man heute in jeder Einführungsvorlesung zur Quantenmechanik, dass sich gerade einmal das Heliumatom noch halbwegs exakt berechnen ließe. Bei allen komplexeren Gebilden versage eine Herleitung aus ersten Prinzipien.

Bei nüchternem Blick betrachtet verwundert es kaum, dass komplexe biomedizinische oder soziale Phänomene nicht aus einer Handvoll Gleichungen ableitbar sind. Nicht einmal ein Physiker kann nur mit den Newtonschen Axiomen eine Brücke bauen oder mit den Maxwellschen Gleichungen einen Computer. Das schmälert nicht die Leistung eines Newton oder eines Einstein – aber es wirft die Frage auf, was diese Forscher da eigentlich herausgefunden haben, wenn es nicht die ehernen Naturgesetze sind, aus denen alle anderen Phänomene ableitbar sind.

Die Wissenschaftstheorie steht heute erst am Anfang solche Fragen zu beantworten. Trotzdem zeichnet sich immer stärker die Notwendigkeit nicht-reduktionistischer Ansätze ab. Diese würden dann auch einen geeigneten Rahmen spannen, die Frage nach dem Verhältnis von Natur- zu Ingenieurwissenschaften neu anzugehen. Und tatsächlich gibt es in letzter Zeit einige grundlegende Arbeiten zu solchen Themen. Ein früher Meilenstein ist das Buch The Dappled World, in dem die englisch-amerikanische Wissenschaftstheoretikerin Nancy Cartwright für ein egalitäres Wissenschaftsbild argumentiert. Die Einzelwissenschaften stehen demnach nicht in einem hierarchischen Verhältnis zueinander mit der Physik an der Spitze, stattdessen existieren alle Wissenschaftsbereiche weitgehend gleichberechtigt nebeneinander, ergänzen sich und überlappen sich sogar teilweise. In ihrem kürzlich erschienenen Buch Komplexitäten lehnt die Philosophin der Biologie Sandra Mitchell ebenfalls einen erklärungstheoretischen Reduktionismus ab und verweist auf die kausale Komplexität vieler biomedizinischer Phänomene wie Depressionen oder Krebserkrankungen.

Es ist schwierig aus diesen Arbeiten ein abschließendes Fazit herauszulesen. Aber einige Grundlinien sind erkennbar. Vor allem gibt es wohl verschiedene Ebenen wissenschaftlicher Theorien, die nicht in einem pyramidenartigen Verhältnis zueinander stehen, sondern vielmehr miteinander in Wechselwirkungen unterschiedlichster Art treten. Die komplexen Erscheinungen der ‚angewandten‘ Wissenschaften scheinen einer vornehmlich phänomenologischen Ebene anzugehören, deren Gesetze kausalen Charakter haben. Hingegen ist die theoretische Ebene der ‚fundamentalen‘ Theorien eher abstrakt, die Gesetze haben hier vor allem eine begriffliche Funktion. Historische Studien zeigen, dass die theoretische Ebene starken Umwälzungen unterworfen sein kann, den vielzitierten wissenschaftlichen Revolutionen, während das phänomenologische Wissen der kausalen Ebene gelegentlich zwar umformuliert wurde, aber sich in seiner empirischen Relevanz kaum änderte.

Das sind erst einmal ein paar grobe Ideen, die sorgfältiger weiterer Ausarbeitung bedürfen. Trotzdem ermöglichen sie eine neue Perspektive auf die zuvor aufgeworfenen Probleme. Die Ingenieurwissenschaften wären demnach hauptsächlich der kausal-phänomenologischen Ebene zuzuordnen, die Physik hingegen eher der begrifflich-abstrakten Ebene. Mit einem geeigneten Kausalitätskonzept lassen sich dann möglicherweise die unterschiedlichen Charakteristika der jeweiligen Gesetzmäßigkeiten nachvollziehen – zwischen den stark kontextbezogenen empirischen Regularitäten einerseits und den universell gültigen theoretischen Axiomen andererseits. Einen Vorschlag hierzu mache ich in Pietsch (2014).

Das Problem der historischen Abfolge wird dadurch gelöst, dass kausale Zusammenhänge nicht unbedingt theoretisch fundiert sein müssen, sondern auch experimentell durch induktive Verfahren, insbesondere Parametervariation, festgestellt werden können. Dadurch ergibt sich die relative Unabhängigkeit der Ingenieurwissenschaften von einer stabilen theoretischen Grundlage. Die Konstanz kausalen Wissens, über starke Umwälzungen in den Begriffssystemen hinweg, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass viele Erfinder mit heute als falsch erkannten theoretischen Vorstellungen Bahnbrechendes geleistet haben. So trug Carnot – wie bereits erwähnt – erfolgreich zur Verbesserung der Dampfmaschine bei, obwohl er Wärme irrigerweise für einen Stoff hielt.

Praktische Relevanz

Auch aus der skizzierten nicht-reduktionistischen Sichtweise ändert sich erst einmal nicht viel. Die Grundlagen der Naturwissenschaften sollten weiterhin fester Bestandteil ingenieurwissenschaftlicher Curricula bleiben. Aber die Gründe dafür sind nun andere. Es geht nicht mehr darum, dass sich bei genügendem Geschick technische Probleme allein durch naturwissenschaftliche Kenntnisse lösen lassen. Die Naturwissenschaften stellen lediglich einen begrifflichen Rahmen bereit, der dabei hilft, die vielfältigen Phänomene zu strukturieren, mit denen sich der Ingenieur konfrontiert sieht. Außerdem halten die Naturwissenschaften einen Vorrat an exemplarischen Problemstellungen und Lösungsmöglichkeiten bereit, an denen sich ein Ingenieur orientieren kann und die er für seine jeweilige Problemstellung anpassen und verändern kann.

Die im Titel gestellte Frage nach der Wissenschaftlichkeit der Ingenieurwissenschaften beantwortet sich damit folgendermaßen. Legt man die Kriterien aus der Physik an, dann ist es möglicherweise nicht weit her mit dem wissenschaftlichen Anspruch. Aber das gilt umgekehrt auch. Wir haben es einfach mit gänzlich unterschiedlichen Zugängen zu tun. Unser Wissenschaftssystem ist allgemein zu stark geprägt von einer Gleichmacherei. Ohne großes Nachdenken über den besonderen Kontext und die jeweiligen Ziele werden die Kriterien einer vermeintlichen Leitwissenschaft wie der Physik auf andere Wissenschaften übertragen, ob es nun um den reduktionistischen Anspruch geht, um die Mathematisierung von Wissenschaften oder um die Gestaltung von Peer-Review-Verfahren. Nicht das Schielen auf die Physik aber macht die Ingenieurwissenschaften wissenschaftlicher. Wissenschaftlichkeit entsteht vielmehr in der systematischen Reflexion der eigenen Methoden, Ansprüche und Ziele und letztlich gerade im Erkennen der Unterschiede zwischen den Disziplinen.


  1. http://www.britannica.com/EBchecked/topic/187549/engineering, abgerufen am 1.9.2014.
  2. Ebd.
  3. Ein interessanter Erfahrungsbericht eines Insiders ist Drieschner (1996).

Literatur

Gernot Böhme, Wolfgang van den Daele & Wolfgang Krohn. 1973. „Die Finalisierung der Wissenschaft.“ Zeitschrift für Soziologie 2:128–144.

Cartwright, Nancy. 1999. The Dappled World. A Study of the Boundaries of Science. Cambridge: Cambridge University Press.

Drieschner, Michael. 1996. “Die Verantwortung der Wissenschaft. Ein Rückblick auf das Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich technischen Welt (1970–1980).“ http://www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/staff/drieschner/beding.htm, abgerufen am 28.8.2014.

Krohn, Wolfgang & Wolf Schäfer. 1983. „Agricultural Chemistry. The Origin and Structure of Finalized Science.“ In W. Krohn, G. Böhme, W. v. d. Daele, R. Hohlfeld, W. Schäfer (Hg.). Finalization in Science. The Social Orientation of Scientific Progress. Dordrecht-Boston: Reidel.

Mitchell, Sandra. 2008. Komplexitäten. Warum wir erst anfangen, die Welt zu verstehen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.

Pietsch, Wolfgang. 2014. „The Structure of Causal Evidence Based on Eliminative Induction.” In P. Illari & F. Russo (Hg.), special issue of Topoi. DOI: 10.1007/s11245-013-9190-y.

Poser, Hans. 2012. Wissenschaftstheorie. Stuttgart: Reclam.

VDI-Gesellschaft Verfahrenstechnik und Chemieingenieurwesen (Hrsg.). 2013. VDI-Wärmeatlas. Wiesbaden: Springer Vieweg.