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fatum 1 | , S. 40
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Plagiate und das Urteil im Fall Schavan

Annette Schavan unterlag am 20. März 2014 vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf1 mit einer Klage gegen die Aberkennung ihres Doktorgrades. Insbesondere für Studenten sind die tragenden Sätze des Urteils über gute wissenschaftliche Arbeit von Interesse. Wie können Gerichte, also wissenschaftsexterne Institutionen, die Qualität der Wissenschaft kontrollieren?

1980 hatte Schavan ihre Dissertation mit dem Titel „Person und Gewissen“ bei der Philosophischen Fakultät der Universität Düsseldorf eingereicht und daraufhin den Grad einer Doktorin der Philosophie erhalten. Nach einem Hinweis im Jahre 2012 und Untersuchungen der Philosophischen Fakultät erklärte der Fakultätsrat ihre Dissertation im Februar 2013 für ungültig und entzog ihr den Doktorgrad. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf bestätigte mit seinem Urteil diese Entscheidung.

Um die Gedanken des Fakultätsrats und des Gerichts nachzuvollziehen, sind ein paar Definitionen hilfreich. Die Kernfragen bei jeder Form von Plagiat, sei es nun in Kunst, Kommerz oder Wissenschaft, lauten immer: Darf man vorhandene Werke oder Werksteile in diesem Umfang und in diesem Kontext kopieren? Muss man dabei auf das Urwerk hinweisen und, wenn ja, in welcher Form?

Das Wissenschaftsplagiat unterscheidet sich allerdings vom Plagiat im urheberrechtlichen Sinne. Ein Plagiat i.S.d. Urheberrechts ist die Übernahme eines urheberrechtlich geschützten Werkes oder Werkteiles unter Anmaßung der Urheberschaft2. Eine gesetzliche Definition von „Plagiat“ gibt es nicht. Das Gesetz regelt die Sache über das Zitierrecht in § 51 UrhG, lässt die Details aber offen. Bei den Wissenschaftsplagiaten muss man solche in empirischen von solchen in textbasierten Wissenschaften unterscheiden. Bei ersteren ist Datenfälschung das größere Problem, bei letzteren Copy-and-Paste. Annette Schavan schrieb mit „Person und Gewissen“ eine rein textbasierte Dissertation, wie sie in den Rechtswissenschaften, der Theologie, der Philosophie, der Philologie etc. üblich ist. Schützen die Regeln des Urheberrechts vor allem den plagiierten Urheber, so hat in der Wissenschaft die Sanktionierung des Plagiats primär eine andere Stoßrichtung: Den Schutz des Lesers und den Schutz der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern zum Fortschritt der Wissenschaft.3

Nach dem Schavan-Urteil kommt es darauf an, dass der Leser an jeder Stelle weiß, wer zu ihm spricht.4 Der juristische Grundsatz ist dabei das Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit5, gestützt auf Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG, welches vorschreibt: Sämtliche wörtlich oder sinngemäß übernommenen Gedanken aus Quellen und Literatur [müssen] als solche kenntlich gemacht werden.6 Außerdem besteht ein Wissenschaftsplagiat nur bei bedingtem Vorsatz, auch Täuschungsabsicht genannt.

Die Möglichkeiten des Verstoßes gegen die vom Gericht sehr prägnant und eingängig formulierten Vorgaben sind mannigfaltig. Die einfachste Form des Plagiats ist die wörtliche Übernahme einer Passage oder gar eines ganzen Textes ohne Hinweis auf den Urheber. Diese einfachste Form ist zugleich auch die dümmste, weil der Plagiator sehr leicht entlarvt werden kann. Wer tatsächlich Copy-and-Paste einsetzt, sollte wenigstens die Rechtschreibfehler ausbessern, sonst ist die Entlarvung umso schmerzhafter – alle Ausflüchte werden nur noch lächerlicher.7 Die wörtliche Übernahme zeugt erkennbar nicht von eigener Denkleistung und ist die dreisteste Anmaßung der Urheberschaft.

Bei sinngemäßen Übernahmen ohne Quellennachweis, also Umformulierungen oder Paraphrasen von Vorhandenem, sind der Phantasie des Plagiators keine Grenzen gesetzt: Er kann das Übernommene an den Stil seiner Arbeit anpassen, synonymisieren, Füllwörter einfügen oder weglassen, den Satzbau verändern, zwei Sätze vereinen oder aus einem zwei machen etc. Der wahre Könner bedient sich bei dieser raffinierteren Art von Copy-and-paste aus mehreren Quellen, die er bunt durcheinanderwürfelt und einem einheitlichen Stil unterwirft. Wenn er dabei schwierig zugängliche oder in Vergessenheit geratene Quellen verwendet, wird er quasi unentlarvbar.8 Es bieten sich Übersetzungsplagiate – vor allem aus selteneren Sprachen – an, bei denen fremdsprachige Texte ins Deutsche übersetzt und ohne Fußnote verwendet werden. Die einfachere Form des Übersetzungsplagiats ist diejenige, bei der von anderen bereits übersetzte Texte ohne Quellenangabe übernommen werden.

Doch bei allen Arten von Umformulierungen herrscht diese Unklarheit: Wo ist die Grenze zwischen bloßem Umformulieren von Vorhandenem und der Erschaffung eines eigenen Gedankens? Ursprünglich eigene Gedanken sind nur bei wohlwollender Definition von „eigen“ möglich; die Wörter und Satzschnipsel, die wir benutzen, haben wir schließlich irgendwann von unserer Umwelt aufgenommen. Doch ab wann ist eine Formulierung so neuartig, so losgelöst von Gelesenem und Dagewesenem, dass sie als eigenständiger Gedanke zitatfrei wird?

Eine weitere Unschärfe besteht bei Allgemeinwissen. Gedanken, die allgemein bekannt sind, müssen nicht mit Zitat belegt werden. Ein Quellennachweis wäre überflüssig und störend. Doch was allgemein bekanntes Wissen ist, legt jede Wissenschaft im Einzelfall für sich fest. Hier entsteht unter Studenten große Unsicherheit, gerade in den Anfangsjahren des Studiums. Man muss ein Gespür dafür entwickeln und es ist ratsam, lieber mehr als weniger Fußnoten zu setzen. Die Uneinheitlichkeit der Vorbilder ist nicht förderlich. Beispielsweise setzt Möllers in seiner Anleitung zum juristischen Arbeiten bei geistige[m] Diebstahl keine Fußnote9; Schack10 hingegen verweist auf den Bundesgerichtshof11 und Waiblinger12. Soll geistiger Diebstahl wissenschaftlich gemeinfrei sein oder ist die Übernahme dieser Formulierung ohne Quellennachweis wissenschaftlich unredlich? Der BGH selbst maßt sich die Formulierung übrigens nicht an; er bezieht sich auf die Kreise der Schriftsteller und Verleger.13

Annette Schavan verstieß nach Ansicht des Fakultätsrats und des VG Düsseldorfs eindeutig gegen das Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit. Sie zitierte viel sinngemäß, vor allem im deskriptiven Teil ihrer Dissertation (ca. 200 von 335 Seiten). Dort erläutert sie die Gewissenstheorien zahlreicher Denker und die des Christentums anhand von Primär- und Sekundärliteratur. Bei mehrsätzigen Paraphrasen setzte sie nun einige Male nicht hinter jedem Punkt eine Fußnote sondern kennzeichnete beispielsweise den ersten Satz nicht als Zitat.14 Dieses Vorgehen kann man nun in zwei Richtungen interpretieren: Entweder man hält es für summarisches Zitieren,15 das womöglich sogar vom Doktorvater gebilligt wurde. Mutmaßlich wusste er ja aus den Gesprächen mit der Doktorandin, dass diese die Primär- und Sekundärquellen fleißig las und sich tadellos auskannte. Oder aber man sieht die unvollständigen Quellenhinweise als Bauernopfer16 an und die Umformulierung des Originals als Verschleierung,17 was wiederum als Nachweis für die Täuschungsabsicht dient.18

Nach Schavans Selbsteinschätzung entsprach ihr Vorgehen der üblichen Zitierweise in den Erziehungswissenschaften Anfang der 80er Jahre.19 Dem hält das Gericht das überzeitlich gültige Gebot der wissenschaftlichen Redlichkeit entgegen.20 Schavans Einwand, ihre Gutachter hätten die angewandte Zitierweise gebilligt und sie habe diese somit nicht getäuscht,21 verwirft das Gericht mit einem Winkelzug: Es komme nicht bloß auf ihre Gutachter an, sondern alle am Promotionsverfahren beteiligten Mitglieder der Fakultät hätten einbezogen sein müssen.22 Die Täuschung einzelner Amtswalter reiche vollkommen für den Plagiatsvorwurf aus.23 Außerdem spreche das Vertrauen ihres Doktorvaters dafür, dass er getäuscht worden sei.24 Für Studenten heißt das: Sie müssen – je nach Professor – eventuell strengere Zitierregeln einhalten, als dieser vorschreibt, damit die Arbeit auch der nachträglichen Überprüfung durch Fakultät und Gericht standhält.

Fehler beim Zitieren können unerheblich sein.25 Nach dem Schavan-Urteil sprechen jedoch Qualität und Quantität (60 Stellen) gegen eine bloße Bagatelle.26 Hier ist die dritte unbestimmte Grenze. Ab wann sind die Fehler so gravierend, dass sie nicht mehr als Bagatelle abgetan werden können? Über diese Einschätzung wird auch der Vorsatz bewiesen.27

Schavan hätte an jenen 60 Stellen also Fußnoten setzen müssen. Doch ist das alles? 60 Fußnoten entscheiden über die Entziehung eines Doktorgrades? Wie viele Dissertationen wurden ähnlich unredlich verfasst und werden es in diesem Moment gerade? Wer die Zitierregeln des Urteils als korrekt ansieht, darf auch für deren systematische Überprüfung mit Hilfe von Plagiatssoftware sein. Sonst bleibt Annette Schavan das Opfer von Wissenschaftsheuchelei.

Die Gerichte können durch die Überprüfung der Fußnoten zwar über das gute wissenschaftliche Arbeiten wachen, jedoch nicht die Qualität der Wissenschaft garantieren. Denn Wissenschaft geht über das Setzen von Fußnoten hinaus. Bei tatsächlich wissenschaftlichem Zitieren ist nämlich der Zitatzweck zu berücksichtigen, der allgemein für das Urheberrecht in § 51 Satz 1 UrhG festgehalten ist: […] sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Das bedeutet, dass man sich mit der zitierten Stelle auseinandersetzen muss.28 Wer im deskriptiven Teil seiner Arbeit seitenweise Paraphrasen produziert, geht nicht wissenschaftlicher vor, nur weil hinter jedem einzelnen Satz eine Fußnote steht. Sich mit einem Zitat auseinanderzusetzen bedeutet Stellung zu beziehen, es in die eigene Argumentation einzubetten, es zu widerlegen oder zu bekräftigen. Bloßes Abschreiben und Umformulieren wird durch Fußnoten nicht geheilt.

Die Einhaltung des Zitatzwecks hat das VG Düsseldorf nicht überprüft, musste und konnte es nicht überprüfen. Das bleibt Sache der Wissenschaftler. Denn die Gerichte dürfen die Entscheidungen der Universitätsgremien, ob es sich um Bagatelle oder Plagiat handelt, nur eingeschränkt überprüfen, nämlich nur auf Verstöße gegen das Willkürverbot oder auf sachfremde Erwägungen.29 Die Beachtung des Zitatzwecks, also die wissenschaftliche Qualität der Arbeit, ihren wissenschaftlichen Gehalt, überprüfen ausschließlich die Professoren. Die Richter können über das bloße Vorhandensein von Fußnoten hinaus kein Urteil abgeben. So bleibt wissenschaftlich Minderwertiges weiterhin gerichtlich unangetastet. Doch unabhängig davon und von der Strenge des Professors, darf es für jeden Studenten und jede Studentin Ehrensache sein, den Zitatzweck ernst zu nehmen, damit er bzw. sie wissenschaftlich Wertvolles vollbringe.

Für Studenten ergeben sich also drei Stufen der Plagiatskontrolle. Auf erster Stufe stehen die Gutachter der Arbeit. Sind sie mit Zitierweise und wissenschaftlichem Gehalt zufrieden, steht der Verleihung des Doktortitels nichts im Wege. Diese Kontrolle passieren viele, auch Annette Schavan und sogar zu Guttenberg. In zweiter Kontrollinstanz wenden die Gerichte möglicherweise strengere Regeln an, je nach Milde der Gutachter. Ihre Zitierregeln darf man beachten, wenn man gegen nachträglichen Doktortitelentzug gefeit sein will. Eine plagiatsfreie Arbeit und wahrlich wissenschaftlich Wertvolles kommen erst zustande, wenn man den Zitatzweck ernst nimmt.


  1. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13 (http://openjur.de/u/685638.html)
  2. Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht (2013), Rn. 283.
  3. Vgl. Rieble, Erscheinungsformen des Plagiats, in: Dreier/Ohly (Hrsg.) Plagiate (2013), S. 31–50, S. 32 und 37.
  4. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 110.
  5. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, 2. Leitsatz und Rn. 110.
  6. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, 2. Leitsatz und Rn. 71.
  7. Z.B.: „Rechtssprechung“ bei zu Guttenberg: http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/Fragment_131_02-23 (zuletzt aufgerufen am 15.10.2014).
  8. Viele Beispiele auf: http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/GuttenPlag_Wiki (zuletzt aufgerufen am 15.10.2014).
  9. Möllers, Juristische Arbeitstechnik und wissenschaftliches Arbeiten (2012), Rn. 484.
  10. Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht (2013), Rn. 283.
  11. BGH GRUR 1960, 500, 503.
  12. Waiblinger, „Plagiat“ in der Wissenschaft (2012), S. 20.
  13. BGH GRUR 1960, 500, 503.
  14. http://schavanplag.wordpress.com/2012/04/26/seite-163/ (zuletzt aufgerufen am 15.10.2014).
  15. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 114.
  16. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 114; mit Hinweis auf: Lahusen, Goldene Zeiten, in: Kritische Justiz 2006, 398, 405 (ironischerweise falsch zitiert im Urteil des VG Düsseldorf als „KJ 2008“, und prompt falsch übernommen von Apel, Anmerkung zu VG Düsseldorf, Urteil vom 20. März 2014–15 K 2271/13, ZUM 2014, 621, 623); weitere Erklärung und viele Beispiele zum „Bauernopfer“ auf: http://de.guttenplag.wikia.com/wiki/PlagiatsKategorien (zuletzt aufgerufen am 15.10.2014).
  17. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 114.
  18. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 162.
  19. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 113.
  20. Ebd.
  21. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 149.
  22. Ebd.
  23. Ebd.
  24. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 148; http://www.rp-online.de/politik/deutschland/doktorvater-haelt-arbeit-fuer-beachtlich-aid-1.3031935 (zuletzt aufgerufen am 15.10.2014); Rechtswissenschaften und Theologie sind die einzigen Wissenschaften, in denen Zirkelschlüsse allgemein als logisch gültig anerkannt sind.Unbekannt.
  25. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 162.
  26. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 137 f., 162.
  27. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 162.
  28. Dreier in: Dreier/Schulze, Kommentar zum Urheberrechtsgesetz, 4. Auflage (2013), § 51 UrhG, Rn. 3–7; Schack, Urheber- und Urhebervertragsrecht (2013), Rn. 545; Rieble, Das Wissenschaftsplagiat (2010), S. 18.
  29. VG Düsseldorf, 20.03.2014, 15 K 2271/13, Rn. 131 und 133.