Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Dialog
fatum 5 | , S. 9
Inhalt

Was ist das: Dialog?

Antwort von Sicco Lehmann-Brauns

Dialog hat Konjunktur. Die Anzahl von Dialog- und Plattformformaten an der Schnittselle von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik hat in den letzten Jahren in Deutschland, aber auch in der Europäischen Union, zugenommen. So gibt es einen Innovationsdialog der Bundesregierung, Bürgerdialoge des Forschungs- und Bildungsministeriums und auch ein Zukunftsdialog der Bundeskanzlerin. Woran liegt diese Konjunktur neuer Dialogformate und wie funktionieren sie?

Angesichts der wachsenden Komplexität in der global vernetzten Wissensgesellschaft und vor allem angesichts der rasant voranschreitenden Digitalisierung aller Lebensbereiche bedarf es sektorübergreifender Austauschformate, um mit dieser Komplexität möglichst angemessen umgehen zu können. Denn die Einsicht hat sich verbreitet, dass keines der ausdifferenzierten Teilsysteme der Gesellschaft seine Funktionalität wird erhalten können, wenn es sich nicht in den Austausch mit anderen Teil-systemen begibt. Oder etwas lapidar gesagt: Weder Wissenschaft noch Wirtschaft noch Politik – bzw. ihre jeweils feiner granularen Ausprägungen in Formen einzelner Disziplinen, Branchen oder Politiksegmente – werden den Zukunftsherausforderungen der Globalisierung und Digitalisierung gewachsen sein können. Zukünftig wird es vermehrt auf ihre Schnittstellen ankommen, um den Wandel unserer Lebenswelt angemessen gestalten zu können.

Die Konjunktur der Dialogformate ist daher aus meiner Sicht eine Reaktion auf die Transformation unserer Gesellschaft: Durch Globalisierung und Digitalisierung werden gesellschaftliche Teilsysteme wie Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, bzw. jeweils deren institutionelle Ausprägungen aufgrund zunehmender Vernetzung mit Anforderungen außerhalb ihres funktionalen Teilbereichs konfrontiert. Die Differenzierungstheorie der Gesellschaft wird durch den Trend zur vertikalen Vernetzung durch Digitalisierung, ebenso wie zur horizontalen Vernetzung durch Globalisierung, herausgefordert.

Auf diese Herausforderungen gibt es zwei grundsätzliche Reaktionsmöglichkeiten: Entweder wird sie verweigert, um weiterhin gemäß der eingeübten Binnenlogik des eigenen Teilsystems fortexistieren zu können. Oder sie wird angenommen, mit der Folge, dass eine Öffnung gegenüber den anderen Teilsystemen zugelassen und der Austausch mit ihnen eröffnet wird. Und schon sind wir beim Dialog als Bezeichnung sowohl der Art und Weise des Austauschs als auch seiner institutionellen Erscheinungsform im Sinne zum Beispiel der eingangs genannten institutionalisierten Dialog- oder Plattformformate.

Die Herausforderungen dieser Dialoge zwischen den einstmals primär ihren Eigenlogiken folgenden gesellschaftlichen Teilsystemen bestehen sowohl in Syntax, als auch in Semantik: Zunächst muss eine gemeinsame Sprache gefunden werden, sowie ein akzeptiertes Regelwerk ihrer Verwendung. Wie notwendig aber auch wie kompliziert das ist, veranschaulicht beispielsweise das dreidimensionale Referenzarchitekturmodell RAMI 4.0. Es wurde entwickelt, um eine branchenübergreifende Syntax und Semantik für das Konzept Industrie 4.0 zu erarbeiten und diese in eine gemeinsame Standardisierung zu übertragen. Eine wesentliche Grundbedingung für das Funktionieren der digital vernetzten Industrie von morgen.

Der Blick auf die konkrete Arbeit dieser neuen Dialogformate und Plattformen zu wichtigen Zukunftsthemen wie Industrie 4.0, Elektromobilität oder der Stadt der Zukunft führt bisweilen zu ernüchternden Einsichten, wie schwierig es ist, eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Regelwerk zu finden. Sämtliche dieser Plattformen hatten bzw. haben daher ihre Anlaufschwierigkeiten. Diese sind wohl nicht zu vermeiden, sondern vielmehr als Chance zu begreifen, über die Binnenlogik ausdifferenzierter Teilsysteme hinaus, gemeinsam an gesellschaftlich wichtigen Themen zu arbeiten. Dabei ist es hilfreich, wenn die Prozesse der Dialog- und Plattformformate klar und transparent definiert sind und deren Einhaltung durch eine gründlich durchdachte Governance garantiert wird.

Dialog in diesem Sinne ist also eine zentrale Herausforderung der Gegenwart und Zukunft, um die gesellschaftlichen Chancen von Digitalisierung und Globalisierung ergreifen und gestalten zu können. Eine große Herausforderung dabei ist es, wie neben den Expertendialogen von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik auch die sogenannte Zivilgesellschaft in den Dialog über die Zukunftsthemen eingebunden werden kann. Hier spielt die Ausbildung von Urteilskraft und Dialogkultur eine wichtige Rolle. Wünschenswert ist es daher, Dialog auch durch ein stärker auf sektorübergreifenden Austausch, sozial-kommunikative Fähigkeiten und Reflexionen des digitalen Wandels ausgelegtes Bildungssystem vorzubereiten.


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