Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Dialog
fatum 5 | , S. 49
Inhalt

Hast du schon gehört, was Robert gestern gemacht hat?

Über die evolutionsbiologische Funktion von Gossip im Dialog

Laut neuester Forschung verbringen wir durchschnittlich ein Drittel unserer täglichen Wachzeit im Dialog mit Freunden, Kollegen oder Familienmitgliedern. Wertvolle Zeit also, die wir auch anders verbringen könnten, zum Beispiel mit Arbeit, Sport oder Lesen. Da wir Menschen, wie alle biologischen Organismen, endliche Lebewesen mit begrenzten Resourcen sind, sind wir angehalten, unsere bewusst gelebte Zeit klug und rational einzuteilen. Die Frage liegt daher nahe, ob der Dialog beim Menschen eine Funktion erfüllt, also – evolutionstheoretisch ausgedrückt – adaptiv ist. Lernen wir vielleicht neues über tiefgehende Themen, diskutieren wir Erkenntnisse über Politik, Ethik, Religion und Kultur, wenn wir im Dialog mit geschätzten Gesprächspartnern stehen?

Die Antwort ist banal. Dank den Arbeiten der englischen Anthropologen Robin Dunbar und Nicholas Emler wissen wir, worüber Menschen reden, wenn sie im Dialog mit Anderen stehen. Dunbar und Emler wählten eine genauso einfache wie effektive Methode, um herauszufinden, worum der Dialog beim Menschen kreist: sie hörten zu. Ob auf Bahnhöfen, in Einkaufszentren, Parks oder Bars: Dunbar und Emler erfassten und kategorisierten die Themen, über die Menschen an diversen öffentlichen Räumen redeten. Themen wie Politik und Religion machten dabei nur 2–3 % Prozent der Dialoginhalte aus. Sogar Sport und andere Freizeitinteressen kamen zusammen auf nur knapp 10 %. Den bei weitem größten Anteil – ungefähr 66 % – aller Dialoge nahm ein Thema für sich in Anspruch: Gossip. Zu Deutsch: Klatsch und Tratsch. Hast Du schon gehört, dass…, Hat Dir X schon erzählt, dass…, Wie findest Du es, dass… und die vielen anderen Satzkonstruktionen, die so exemplarisch für unsere Neigung stehen, beurteilende persönliche Informationen über abwesende Dritte (so ein gängiges Verständnis von Gossip) untereinander auszutauschen. Übrigens treffen diese Ergebnisse nicht nur auf Dialoge in westlichen Gesellschaften zu, sondern können über Kontinent- und Kulturgrenzen hinweg generalisiert werden. Sogar bei Jäger-Sammler-Gruppen machen Austausche über das (Fehl-)Verhalten anderer, romantische Beziehungen und Ab- und Zuneigungen gegenüber gemeinsamen Bekannten den Großteil der Dialogthemen aus. In der Entwicklungspsychologie wird die Relevanz eines bestimmten Verhaltens oder einer Fähigkeit oft anhand des zeitlichen Auftretens in der Entwicklung des Individuums bemessen. Was schon bei Kleinkindern auftritt, muss besonders wichtig für das (soziale) Leben sein. Darauf aufbauend haben wir in unserer eigenen Forschung untersucht, ob schon Kleinkinder Klatsch und Tratsch an ihre Altersgenossen weitergeben. Und tatsächlich taucht die Fähigkeit und Tendenz zum Gossip schon früh im Kindesalter auf. So haben wir in einer kürzlich veröffentlichten Studie erforscht, inwiefern schon 3- und 5-jährige Kinder eine Neigung zum Gossipen aufweisen.1 Die Kinder spielten mit zwei verschiedenen Spielpartnern ein Tauschspiel. Ein Spielpartner erwies sich dabei durchgängig als geizig und unkooperativ, während der zweite Spielpartner seine Ressourcen fair und gerecht aufteilte. Nach dem Spiel trafen die Kinder scheinbar zufällig ein gleichaltriges Kind, das als nächstes mit den beiden Spielpartnern spielen sollte. Wir interessierten uns dafür, ob und in welchem Maße Kinder über die beiden Spielpartner gossipen würden. Die Resultate waren deutlich: Schon die jüngeren Kinder gaben bewertende Informationen über ihre vorherigen Spielpartner spontan weiter:Ich würde nicht mit dem spielen, weil der immer nur ganz wenig abgibt. oder Der eine ist total geizig.

Gossip nimmt nicht nur unter den vielen möglichen Dialogthemen eine besondere Rolle ein, sondern strahlt auch aus epistemischer Perspektive besondere Glaubwürdigkeit aus. Die meisten Leser dieses Artikels würden wohl von sich behaupten, dass sie Gossip skeptisch entgegentreten. Ralf Sommerfeld und Kollegen untersuchten diese weit verbreitete Behauptung, indem sie den Teilnehmern ihrer Studie (allesamt Universitätsstudenten) konfligierende Informationen über eine bestimmte Person gaben. So konnten Teilnehmer zum Beispiel direkt mit ihren eigenen Augen sehen, dass Person X kooperativ und fair ist. Gleichzeit wurde ihnen aber über Gossip mitgeteilt, dass Person X eigensinnig und unfair handelt. Wem würden die Studenten vertrauen: der direkten Information oder den über Gossip vermittelten Ansichten? Das Ergebnis mag manche überraschen: Die Mehrzahl der Teilnehmer verließ sich lieber auf Gossip und interagierte nicht mit der Person, die sie zuvor als kooperativ und fair erlebt hatten.2

Zwei Schimpansen beim Lausen.
Der britische Anthropologe Robin Dunbar argumentiert, dass die menschliche Tendenz zum Klatsch und Tratsch die evolutionäre Weiterentwicklung des Groomings (‚Lausen‘) bei Schimpansen ist. Foto: Esther Herrmann

Analog zur Frage „Warum Dialog?“ stellt sich nun also die Frage „Warum Gossip?“. Mit anderen Worten, wie lässt sich die menschliche Obsession der Produktion und Rezeption von Gossip aus evolutionärer Perspektive erklären? Eine erste Annäherung an diese Frage versuchte schon Robin Dunbar in seinem 1998 erschienenen und weit über Disziplingrenzen hinaus einflussreichen Buch Grooming, Gossip, and the Evolution of Language. Demnach spielt Gossip eine beim Menschen ausgezeichnete Rolle in der Bildung und Aufrechterhaltung von engen sozialen Beziehungen. Dunbar argumentiert, dass genauso wie Grooming (gegenseitiges Lausen) bei anderen Menschenaffen soziale Beziehungen stärkt und vertieft, Menschen nach gemeinsamen Gossip-Runden eine stärkere Bindung als zuvor spüren. Dies leuchtet intuitiv ein: Gossip beinhaltet konstitutiv Beurteilungen von anderen Personen anhand von gemeinsamen Werten und dient so der Vergewisserung von geteilten Ansichten und Meinungen – und kann auf diese Weise zwischenmenschliche Nähe hervorrufen. Doch greift dieser Erklärungsansatz zu kurz. Neue Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass Gossip eng mit dem verbunden ist, was uns Menschen im Tierreich einzigartig macht und von anderen Tieren, sogar unseren nächsten lebenden Verwandten, den Schimpansen, unterscheidet. Konvergierende Erkenntnisse der letzten 20 Jahre aus der Psychologie, Biologie, Anthropologie und Ökonomie weisen darauf hin, dass die jahrtausende alte philosophische Frage „Was macht den Mensch zum Menschen?“ eine (vermeintlich) einfache Teilantwort hat: seine Kooperationsfähigkeit. Menschliche Errungenschaften wie die Reise ins Weltall, der Bau von Hochhäusern oder komplexen Abwassersystemen, aber auch die menschliche Sprache, Algebra und Jazz lassen sich nicht als Produkt der Anstrengungen eines Einzelnen, sondern nur im Rahmen einer generationsumspannenden Zusammenarbeit verstehen. Dank dieser im Tierreich ausgezeichneten Kooperationsfähigkeit sind Menschen auch die einzigen Tiere, die eine kumulative Kultur aufweisen, also eine Kultur, die sich von Generation zu Generation weiterentwickelt. Während Vögel ihre Nester heute noch genauso bauen wie vor Hundertausenden von Jahren oder sich die Dämme von Biebern im Laufe ihrer Evolution nur unwesentlich verändert haben, schliefen Menschen auch mal in nestähnlichen Strukturen, heute jedoch (wenigstens teilweise) in geheizten und gedämmten Wohnungen.

Was hat dies nun alles mit Dialog und Gossip zu tun? Erfolgreiche Zusammenarbeit ist, wie wir alle wissen, alles andere als einfach. Bereits vermeintlich einfache und kleine kooperative Herausforderungen, wie ein mit Kommilitonen gemeinsam gehaltenes Referat, enden nicht selten in zwischenmenschlichen Verwerfungen, gegenseitigen Schuldzuweisungen und jahrelanger Funkstille. Um dies zu verhindern, überlassen wir es meist nicht dem Zufall, mit wem wir kooperieren. Die Personen mit denen wir ein Start-Up gründen, gemeinsam einen Artikel verfassen, oder Referate halten wählen wir nach Möglichkeit sorgfältig aus. Wir betreiben also, wie es im Fachjargon heißt, partner choice, zu Deutsch Partnerwahl, damit wir nicht mit faulen, unkooperativen und unfähigen Partnern kollaborative Projekte gestalten und durchziehen müssen.

Es stellt sich also die Frage, auf welcher Basis wir Partner auswählen. Die beiden Evolutionstheoretiker Karl Sigmund und Martin Nowak postulierten in einem Übersichtsartikel in der Fachzeitschrift Nature, dass derartige Entscheidungen auf Grund von einer (oder mehreren) der drei folgenden Informationsquellen getroffen werden können:3 1. eine frühere direkte Interaktion mit potentiellen Partnern; 2. eine Beobachtung des Verhaltens der potentiellen Partner; 3. Informationen, die wir über die potentiellen Partner durch Gossip erhalten haben. Partner choice basiert also oft auf der Reputation von potentiellen Interaktionspartnern. Partner mit positiver Reputation werden als Kooperationspartner präferiert und rekrutiert, Individuen mit negativer Reputation werden von kooperativen Aktivitäten und im Extremfall sogar von der Gruppe ausgeschlossen. So kommt Gossip, laut Sigmund und Nowak, gerade in großen sozialen Gemeinschaften eine ausserordentlich wichtige Rolle zu, da wir in derartigen Kontexten oft nicht auf die beiden anderen Informationsquellen zurückgreifen können um etwas über die Reputation von potentiellen Partnern zu lernen (direkte Interaktion oder Beobachtung).

Dies ist der Grund, warum sich Gossip evolutionär durchgesetzt hat, einen Großteil unserer Dialoge bestimmt und in vielen Fällen sogar positive Konsequenzen nach sich zieht: Gossip stabilisiert Kooperation. Die über Gossip vermittelte Information über die Reputation einer bestimmten Person ermöglicht es Individuen kooperative Partner für gemeinsame Projekte auszuwählen. Dies läßt sich auch empirisch bestätigen. In dem bereits erwähnten Artikel von Sommerfeld et al. zeigten die Wissenschaftler auch, dass der Zugang zu Gossip über potentielle Interaktionspartner sich bereits dadurch positiv auf die Stabilität von Kooperation auswirkte, dass Individuen ihre Kooperationspartner nun auswählen konnten und so nicht auf unkooperative und unfaire Partner hereinfielen. Interessanterweise stabilisiert Gossip aber Kooperation auch noch auf eine andere – wenn auch verwandte – Weise. Dass Individuen ihre Kooperationspartner sorgfältig auswählen setzt eine interessante soziale Spirale in Gang. Da wir wissen, dass unsere Reputation kontinuierlich durchleuchtet wird und sich grundlegend auf unsere Zukunftschancen auswirkt, versuchen wir unsere Reputation aktiv zu verbessern. Dieses Verhalten, oft bezeichnet als reputation management, tritt schon bei jungen Kindern auf und scheint den Menschen auszuzeichnen. So kümmern sich unsere engsten lebenden Verwandten, die Schimpansen, nicht um ihre Reputation. In einer Studie aus dem Jahr 2012 konnten wir zeigen, dass bereits 5-jährige Kinder prosozialer sind (bspw. weniger stehlen und mehr helfen), wenn sie von einem gleichaltrigen Kind beobachtet werden. Schimpansen jedoch ändern ihr Verhalten nicht, wenn sie von einem Artgenossen beobachtet werden.4 Also zeigen Menschen strategische Prosozialität und verhalten sich kooperativer und prosozialer, wenn sie beobachtet werden. Beersma und van Kleef haben kürzlich gezeigt, dass Gossip auch hier, bei unserem reputation management, eine Rolle spielt.5 Ihren Studienteilnehmern wurde entweder gesagt, dass ihre Beobachter gerne gossipen oder, dass sie eine geringe Neigung zum Klatsch und Tratsch haben. Die Ergebnisse sind eindeutig: Teilnehmer, die von Klatschtanten und -Onkeln beobachtet wurden verhielten sich deutlich prosozialer als diejenigen Teilnehmer, die von Personen mit geringer Gossip-Wahrscheinlichkeit inspiziert wurden.

Dass sich unser Dialog oft um Gossip dreht, lässt sich also aus evolutionstheoretischer Perspektive nachvollziehen. Durch Gossip erhalten wir wertvolle Information über Mitmenschen, insbesondere dahingehend, wem wir lieber aus dem Weg gehen sollten und auf wen wir uns als vertrauenswürdigen Partner verlassen können. Obwohl Gossip oft eingeschränkt werden sollte – zum Beispiel wenn er verletzlich ist und zum Mobbing von Mitmenschen genutzt wird – hat diese zutiefst menschliche Eigenschaft auch eine funktionale Seite.


  1. Jan M. Engelmann et al., Preschoolers affect others’ reputations through prosocial gossip in Br. J. Dev. Psychol. (2016).
  2. Ralf D. Sommerfeld et al., Gossip as an Alternative for Direct Observation in Games of Indirect Reciprocity in Proc. Natl. Acad. Sci. (USA, 2007).
  3. Martin A. Nowak und Karl Sigmund, Evolution of Indirect Reciprocity in Nature 437 (2005), 1291–1298.
  4. Jan M. Engelmann et al. Five-year olds, but not chimpanzees, attempt to manage their reputations in PLoS ONE (2012).
  5. Bianca Beersma und Gerben A. van Kleef, How the grapevine keeps you in line. Gossip increases contributions to the group in Social Psychological and Personality Science (2011), 642–649.

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