Träume und Wahrheiten
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Was ist das: Träume und Wahrheiten?

„Träume und W­ahrheiten“, ist das die Spannung zwischen Schein und Sein? Oder haben Träume eine besondere Realität, gar eine eigene Art von Wahrheit? Drei Expertinnen geben kurze Einführungen: Dr. Jennifer Windt, Dozentin für Philosophie an der Monash Universität in Melbourne, Dr. Petra Gehring, Professorin für Philosophie an der TU Darmstadt und Dr. Elena Ficara, Juniorprofessorin an der Universität Paderborn.

Zu Traum und Realität

Vielleicht ist der Traum das schlechthin beste Beispiel für einen Gegenstand, den es in jeder Hinsicht des Wortes nicht gibt. Der Grund dafür ist nicht nur das empirische Problem, dass Träume sich als subjektives Erleben nicht beobachten lassen (auch derzeit angesagte Kombinationen von Schlaflabormessungen und der antrainierten Fähigkeiten zur Selbstauskunft aus sogenannten luziden Zuständen heraus können wissenschaftstheoretisch nicht überzeugen). Der Grund liegt auch nicht lediglich darin, dass Träume ja gerade außerhalb derjenigen Erfahrungszonen liegen, aus welchen heraus wir den Modus einer einheitlichen, objektiv zugänglichen Realität überhaupt gewinnen und sozial kultivieren: derjenigen Zonen nämlich, die uns als Axiome für Welt dienen. Wobei wir, wenn wir „Welt“ sagen, eine Menge bereits für selbstverständlich erklären, ‒allem voran das normale erwachsene, unverrückbar gesunde Wachbewußtsein europäisch-modernen Typs, das die Existenz einer einzigen geteilten Welt namens Realität für alle gesunden Exemplare des homo sapiens für jederzeit und allerorts zweifelsfrei beweisbar hält. Eigentlich jedenfalls.

Der Grund für die epistemische Sonderstellung des Traumes (es gibt ihn nicht) lässt sich anders fassen – nein: er sollte noch anders gefasst werden. Und hier beginnt eigentlich erst die Arbeit der Wissenschaftsphilosophie. Träume sind nicht nur Gegenstände von einer schier erstaunlichen, gewissermaßen vor-ontologischen Relativität. Sondern sie sind gar keine Gegenstände. Denn noch das Konzept des Gegenständlichen, die Idee, es seien der Traum oder das Träumen zu erforschen, ist dem Reich des Nicht-Geträumten entnommen. Der Traum sei gewissermaßen als Sonder- und Grenzfall der Realität in der Art eines Schlüssels zu allen „Ausnahmen“ von normalen Bewußtseinszuständen zu studieren – hier haben wir vielmehr eine Idee des 19. Jahrhunderts vor uns, eines geradezu eskalierend wirklichkeitsversessenen Jahrhunderts.

Träumen und Wachbewußtsein sind aber nicht Zustände, sondern zwei Seiten einer Differenz, die schon als solche sich erstens nicht von selbst versteht und zweitens nicht von ihren Resultaten her, sondern als Differenz studiert werden sollte. Und zwar vergleichend: im Blick auf historisch fremde Welten und im Blick auf Kulturen – solche mit anderen Welt(en) als derjenigen der europäisch-christlich-naturalistischen Präferenz für (Außenwelt-)Realität. Ein Ergebnis liegt auf der Hand, wendet man sich der Frage nach Träumen und Wachen als Frage nach der Genese von Unterscheidungen zu: Diese Unterscheidung kann höchst unterschiedlich kultiviert werden, ist äußerst wandelbar.

Es lohnt sich daher, die Frage umzudrehen: Nicht der Traum im Wandel der Zeiten oder auch das Träumen als Grenz- oder Ausnahmezustand, sondern die Differenz(en) – Begriffe und auch Praktiken –, mittels welchen wir Realität und Wirklichkeitsverständnisse etablieren, sind das eigentlich relevante Thema. Auch die europäische Geschichte entpuppt sich auf diese Weise nicht bloß als Geschichte einer Realität, die Kehrseiten hat. Sie entpuppt sich vielmehr als eine Geschichte des Wandels und vielleicht sogar der jeweils prekären Besonderheit eines Nicht-Geträumten. Das Nicht-Geträumte ist der Sonderfall, und die Art und Weise, in welcher es sich glaubhaft zu Wachwirklichem (oder gar zu so etwas Unwahrscheinlichem wie Realität) konfiguriert, garantieren weder Psyche noch Physik noch überhaupt „Natur“.

Dass uns keine Wissenschaft erklären kann, warum wir überhaupt schlafen oder träumen, hat einen einfachen Grund: Das, wonach zu fragen wäre, liegt der Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft schon der Form nach derart weit voraus, dass Vergegenständlichungsstrategien scheitern. Selbst der Differenzbegriff (die oben verwendete Rede von der Unterscheidung) muss im Plural untergehen: Was zu studieren wäre, ist vielfältig: Modi des Differenzierens. So verweist uns das Staunen vor dem Träumen auf die Rätsel glaubwürdig weltstiftenden Wachseins: auf die Entstehungs- und Differenzierungsdynamik von Formen von – Menschen heute nutzen allerdings den Singular: der Form – Wachwirklichkeit selbst.

Zum Traum

Träume sind bewusste Erlebnisse im Schlaf. Technischer ausgedrückt: Träume sind phänomenale Zustände; es fühlt sich irgendwie an zu träumen. Diese allererste Annäherung an eine Definition ist aber noch recht unspezifisch. Gedanken, die im Schlaf immer wieder um dasselbe Thema kreisen, und isoliert auftretende Sinnesempfindungen haben subjektiven Erlebnischarakter, sind aber, so wird meist angenommen, keine Träume im eigentlichen Sinn.

Diese zunächst unschuldig wirkende Definition war besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts extrem kontrovers. Ist Schlaf nicht schon aus begrifflichen Gründen eine Form von Bewusstlosigkeit? Und könnte es nicht sein, dass man im Schlaf selbst überhaupt nichts erlebt, sondern erst im Moment des Aufwachens der Eindruck entsteht, man habe geträumt? Die Entdeckung des REM-Schlafes in den 1950er Jahren – benannt nach den charakteristischen schnellen Augenbewegungen (rapid eye movements) – hat die Rede von Träumen als bewussten Erlebnissen salonfähig gemacht. Der Schlaf ist kein einheitlicher Ruhezustand: im REM-Schlaf ist die Gehirnaktivität mitunter sogar noch höher als im Wachzustand. Werden Probanden im Schlaflabor aus dieser Schlafphase geweckt, berichten sie mit hoher Wahrscheinlichkeit, gerade geträumt zu haben. Die sogenannte REM-Schlaflähmung verhindert, dass man die im Traum erlebten Bewegungen tatsächlich ausführt. Sie erklärt auch, warum der Traumschlaf von außen einem Zustand der Bewusstlosigkeit ähneln kann. Sind Träume dann einfach bewusste Erlebnisse im REM-Schlaf? Nicht ganz: Weckungen aus dem REM-Schlaf führen nicht immer zu Traumberichten, und Träume werden auch gelegentlich nach Weckungen aus anderen Schlafphasen berichtet.

Dieser kurze Exkurs in die Traumforschung verdeutlicht, dass in unserer Definition ein entscheidender Aspekt fehlt: Träume sind, sofern sie Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sein sollen, berichtbare Erlebnisse im Schlaf. Das ist damit verträglich, dass die meisten Träume tatsächlich vergessen werden. Schlaflaborstudien zeigen, dass die spontane Traumerinnerung ein schlechter Indikator für die tatsächliche Traumhäufigkeit ist. Träume sind berichtbare Erlebnisse weil man sich unter bestimmten Bedingungen, etwa nach einer Weckung im Schlaflabor, an sie erinnern und sie dann auch berichten kann. Vielleicht gibt es im Schlaf auch Erlebnisse, die sich aus prinzipiellen Gründen der Erinnerung und somit auch der Berichtbarkeit entziehen. Diese wären dann aber auch keine Träume in dem Sinn, in dem sich die wissenschaftliche Traumforschung mit ihnen beschäftigt.

Durch die Konzentration auf berichtbare Träume können die Ergebnisse der wissenschaftlichen Traumforschung genutzt werden, um den Traumbegriff schrittweise mit Inhalt zu füllen. Viele, aber eben nicht alle Träume sind visuell, emotional, usw. Meist stolpert man recht ahnungslos und unkritisch durch die Traumwelt – aber in luziden Träumen merkt man, dass man träumt und kann den Traum oft sogar kontrollieren. Gibt es trotzdem so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der verschiedenen Arten von Träumen zugrunde liegt? Ausgangspunkt ist die in der Philosophiegeschichte übliche Beschreibung des Traums als Erleben eines Traumselbst in einer Traumwelt. Wir können nun aber genauer werden: Auch dann, wenn sich das Erleben im Traum radikal vom Wachzustand unterscheidet – wenn man sich nicht mehr als denkendes und nicht einmal mehr als körperliches Selbst erlebt – gibt es im Traum ein erlebtes Hier und ein erlebtes Jetzt. Es gibt das Gefühl der Gegenwart in einem raumzeitlichen Bezugsrahmen; und das Zentrum dieses Bezugsrahmens, der sogenannten Traumwelt, ist das, was später im Traumbericht als Selbst beschrieben wird. Wenn das stimmt, haben wir nun eine empirisch informierte Theorie darüber, was Träume sind; und gleichzeitig können wir den Vergleich zwischen Traum- und Wachbewusstsein nutzen, um genauer zu verstehen, unter welchen Bedingungen wir uns als Selbst in einer Welt erleben. Träume sind daher unter anderem auch eine Kontrastbedingung für die interdisziplinäre Bewusstseinsforschung und für philosophische Theorien des Selbstbewusstseins. Sie verraten uns etwas über die Struktur des bewussten Erlebens.

Zur Wahrheit

Wahrheit ist ein, wenn nicht das Hauptthema der Philosophie. Philosophie wird nämlich schon seit der Griechischen Antike als Erforschung der Wahrheit definiert. In Platons Dialog Gorgias (526e) erwähnt Sokrates, dass die Erforschung der Wahrheit sogar eine lebensverändernde Praxis ist, die die Grundlage des gerechten und guten Lebens bildet, die jedoch gewisse (teilweise schlimme) Konsequenzen mit sich führt. Sie impliziert, dass man Ehre, Erfolg usw. „fahren lässt“ und dass man keine Angst hat, sich gegen die Mächtigen zu stellen. Ähnlich wie Sokrates behauptet Hegel im § 19 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, dass die Philosophen angefangen haben, über alles – Gott, Natur, Staat usw. – nachzudenken, um dadurch zu erkennen, was die Wahrheit sei. [I]ndem man sofort dachte, ergab sich, dass die höchsten Verhältnisse im Leben dadurch kompromittiert wurden, dass Staatsverfassungen dem Gedanken zum Opfer fielen, die Religion vom Gedanken angegriffen wurde, feste religiöse Vorstellungen untergraben wurden. Daher wurden Philosophen verbannt und getötet wegen Umsturzes der Religion und des Staates.

Somit sind die Macht und Wichtigkeit der Wahrheit evident. Die Frage stellt sich jedoch weiterhin: Was ist Wahrheit?

Die beste Methode, um diese Frage zu beantworten, ist es, zunächst zu fragen: „Was verstehen wir darunter, wenn wir sagen, dass etwas wahr ist?“ Es ist nämlich klar, dass das Wort wahr in unserer Sprache existiert und sich in der Sprache wie andere Prädikate verhält. Prädikate wie schön, glücklich und blau sind sprachliche Strukturen, die wir benutzen, um die Eigenschaften von etwas zu bezeichnen. Die Wahrheit ist die Seinsweise der Dinge, die wir wahr nennen, genauso wie Schönheit die Seinsweise dessen ist, was wir schön nennen. Gibt es aber die Eigenschaft wahr? Ist es möglich, sie zu definieren?

Ein Prädikat wird dadurch definiert, dass man seine Bedeutung angibt. Um z. B. die Bedeutung des Prädikats glücklich anzugeben, sagt man zunächst, dass es von Personen ausgesagt werden kann. Ich kann behaupten „Maria ist glücklich“, aber nicht „der Tisch ist glücklich“. Glücklich kann eine Eigenschaft von Personen sein, aber nicht von Gegenständen. Im nächsten Schritt spezifiziert man, wann eine Person als glücklich definiert werden kann. Man sagt z. B. „eine Person ist glücklich genau dann, wenn sie vom Zufall begünstigt wird“.

Eine Wahrheitstheorie sollte ähnlich verfahren und folgende Fragen beantworten:

  1. Welchen Dingen schreiben wir das Prädikat wahr zu?
  2. Welche Eigenschaften müssen diese Dinge besitzen, um wahr genannt zu werden?

Dadurch, dass die Wahrheitstheorie die Frage 1) beantwortet, gibt sie an, welche die Wahrheitsträger sind (die truthbearers). Wahr kann man Behauptungen, Aussagen, Überzeugungen usw. nennen, aber nicht Gegenstände oder Personen. Die Frage 2) wird beantwortet, wenn man spezifiziert, wann man wahr benutzen kann, d. h. dadurch, dass man die entsprechenden Eigenschaften angibt, die Aussagen haben müssen, um wahr genannt zu werden.

In der Geschichte der Philosophie und in der zeitgenössischen Debatte über Wahrheitstheorien sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, um die Eigenschaften explizit zu machen, die eine Aussage haben muss, um wahr genannt zu werden. Nach der Theorie der Wahrheit als Korrespondenz etwa ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie mit den Fakten übereinstimmt. Wahr heißt dann soviel wie „mit den Fakten übereinstimmend“. In der Kohärenztheorie heißt wahr „mit anderen Aussagen kohärent“. In der pragmatistischen Wahrheitstheorie ist eine Aussage genau dann wahr, wenn sie nützlich ist, d. h. für unsere Erkenntnis gewinnbringend.

Es gibt auch eine Richtung in der Debatte über Wahrheit, die man Deflationismus nennt. Das Wort Deflationismus stammt vom Englischen Verb to deflate ab, was übersetzt „die Luft ablassen“ bedeutet. Der Deflationismus verneint, dass man das Prädikat wahr definieren kann, und dass es irgendeine substantielle Eigenschaft ausdrückt; „p ist wahr“ heißt für den Deflationismus einfach p. Wenn ich beispielsweise sage, dass es wahr ist, dass die Katze auf dem Sofa ist, dann sage ich einfach nur, dass die Katze auf dem Sofa ist. Das Prädikat wahr fügt somit dem Inhalt der Aussage nichts Wesentliches hinzu. Man könnte sagen, dass der Deflationismus eine Position ist, derzufolge die Luft aus der ganzen Wahrheitsproblematik abgelassen wird.