Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Logik, Moral und Welten
fatum 2 | , S. 51
Inhalt

Katastrophen provozieren

Warum gehen Menschen unkontrollierbare Risiken ein?

Heute leben auf der Erde gleichzeitig über sieben Milliarden Menschen. Das sind so viele, wie bis zur Industrialisierung insgesamt geboren worden waren. Um das Leben für alle Menschen auf der Erde zu ermöglichen, greifen wir in die Natur ein und besiedeln immer abgelegenere und gefährlichere Gebiete. Nach der Industrialisierung erfasst uns nun die Digitalisierung, in der sämtliche Informationen digital gespeichert und vernetzt werden. Computer übernehmen immer mehr Arbeit und unterstützen die Versorgung von Bedürfnissen und Begierden der vielen Menschen auf der Erde. Die intelligenten Computer und Server verlangen enorme Energiemengen. Auf der gierigen Suche nach Energiequellen gehen Menschen hohe Risiken ein, die ihren Mitmenschen und sicher auch späteren Generationen teuer zu stehen kommen werden.

Seit Mitte des 20. Jahrhunderts steigt der Energieverbrauch weltweit rasant an. Dieses Phänomen wird das 1950er Syndrom genannt. Zu Beginn dieser Entwicklung begann man in Italien mit dem Bau eines Staudamms bei Vajont, einem ambitionierten Projekt mit dem die Stromversorgung Venedigs gewährleistet werden sollte. Das Energiegewinnungsprojekt hätte das größte seiner Zeit werden sollen, endete aber vor seiner Fertigstellung mit einer Katastrophe.

Erst langsam klärt sich auf, was damals wirklich geschehen ist. Es handelte sich in jedem Fall um eine von Menschen verursachte Naturkatastrophe. In einem Artikel der Süddeutschen Zeitung wirft Axel Bojanowski der Adriatischen Elektrizitätsgesellschaft SADE, die mit dem Bau beauftragt war, sowie der damaligen Regierung vor, grob fahrlässig gehandelt zu haben. Sämtliche Bedenken wurden ignoriert, unangenehme Gutachten unter Verschluss gehalten und warnende Journalisten verklagt.1 Bis sich am Abend des 9. Oktober 1963 eine 270 Millionen Tonnen schwere Flanke von dem Berg Monte Toc löste und in den bereits aufgestauten See stürzte. Durch den Aufprall entstand eine Schallwelle, die die über dem Seespiegel liegende Stadt Casso komplett zerstörte. Sofort danach türmte sich eine 240 Meter hohe Welle auf, die über die Staumauer schwappte und die Ortschaften Longarone, Pirago, Villanova, Rivalta und Fae vernichtete.2 Das Durchsetzen des riskanten Bauvorhabens, gegen alle begründeten Bedenken, kostete zweitausend Menschen das Leben.

War die Katastrophe abzusehen? Hätte man die Bevölkerung retten können? Wer trägt die Verantwortung für solche, von Menschen gemachten Katastrophen? Gravitative Massenbewegungen wie Hangrutschungen können heutzutage relativ gut abgeschätzt werden. Zuverlässige Untersuchungen sind allerdings sehr aufwendig und teuer, da die gefährdeten Gebiete meist kaum bis gar nicht begehbar sind. In Vajont wurden mehrere Untersuchungen gemacht und Gutachten erstellt, die genau das vorhergesagt haben, was später passierte. 1968 begann ein Prozess gegen die Verantwortlichen des Bergsturzes von Vajont. Einer der beteiligten Bauingenieure hatte kurz zuvor Selbstmord begangen, andere Angeklagte wurden aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die relativ hohen Haftstrafen wurden später durch ein Appellationsgericht verringert.3 Sechs Ortschaften wurden vernichtet und zweitausend Menschen haben ihr Leben verloren, weil ein Energiekonzern und die damalige Regierung die Gefahr nicht gesehen haben oder nicht sehen wollten.

Machte der Ehrgeiz danach, sich über die Natur emporzuheben, die Ingenieure blind vor den Gefahren? Oder waren es die hohen Investitionskosten, die den Energiekonzern bei einem Rückzug vielleicht ruiniert hätten? Warum wurde das Projekt von öffentlicher Stelle überhaupt genehmigt? Noch bevor die großen Gefahren bekannt wurden, formierten sich in der Bevölkerung Proteste gegen den Bau des riesigen Staudamms, der zudem die Enteignung und Umsiedelung vieler Familien erzwang. Vielleicht haben die Ingenieure die Warnungen nur als Auswüchse der Protestbewegung gegen die Enteignungen infolge des Dammbaus wahrgenommen. Das Projekt sollte das größte seiner Art werden, mit einer bis heute nicht übertroffenen Staudammhöhe. Das wollten sich die Regierungsstellen und SADE nicht entgehen lassen.

Der Bau von Staudämmen erfordert große Flächen. Deswegen müssen häufig Anwohner umgesiedelt werden. Vor allem in China kommt es dabei immer wieder zu Enteignungen. Die aufgestauten Wassermassen bergen noch dazu ein großes Potential für Katastrophen in sich und stellen als Ziel terroristischer Anschläge eine große Gefahr dar. Die Unfälle in den gigantischen chinesischen Staudämmen kosteten seit 1960 mindestens 30.000 Menschen das Leben.

Mattmark-Stausee
Mattmark-Stausee (Schweiz). Foto: Lisa Krammel

Wasserkraft nimmt den größten Teil der „erneuerbaren Energien“ ein, zerstört jedoch auch Lebensräume von Menschen, Tieren und Pflanzen nachhaltig. Die Ausmaße der Katastrophen von Atomkraftwerken sind vergleichbar, nur weniger sichtbar. Unsere Hightech-Zivilisation verschlingt Unmengen an Strom und die verheißungsvolle Kernfusion hat sich noch nicht als Lösung für die Energieprobleme erwiesen. Um den zunehmenden Strombedarf zu stoppen, müsste man die weitere Digitalisierung aufhalten. Nach einer Studie der TU Dresden wird das Internet 2030 bereits so viel Strom verbrauchen, wie heute die gesamte Weltbevölkerung.4 Die gigantischen Herausforderungen, so wie auch die möglichen Risiken, treiben die Ingenieure erst recht an, immer größere und immer unmöglicher erscheinende Projekte zu planen. Politiker wollen sich profilieren und Wachstum ermöglichen, um Arbeitsplätze zu schaffen. Deshalb stärken sie den Planern der Großprojekte den Rücken und provozieren extreme Reaktionen der Natur.

Beim Spaziergang über die Mauer eines gigantischen Staudamms kann einen leicht das Gefühl übermannen, Herrscher über die Natur zu sein. Einen Kampf gegen die Natur können wir Menschen aber nicht gewinnen. Was uns bleibt, ist das ständige Erneuern und Erweitern unseres künstlichen Lebensraumes. Katastrophen, wie jene in Vajont, wurden eindeutig von Menschen hervorgerufen. Vor nicht allzu langer Zeit sprach man noch von der „Rache Gottes“ und eigentlich noch immer von der „Rache der Natur“. Erdbeben, Tornados, Erdrutsche und Überschwemmungen kommen in der Natur auch unabhängig vom Menschen vor, aber erst durch die Anwesenheit und die Eingriffe der Menschen werden sie zu lebensbedrohlichen Gefahren. Durch die Einengung von Flüssen und die Besiedlung exponierter Flächen provoziert der Mensch Naturkatastrophen.

Durch sorgfältige Sicherheitsmaßnahmen können Risiken minimiert werden. Aber nicht alle Staaten können sich Hangüberwachung, flächendeckende Wetterstationen und Hochwassermanagement leisten. Im Mai 2014 wurde ein afghanisches Dorf völlig unerwartet unter einer riesigen Schlammlawine vergraben. Die Zahl der Toten wird auf ungefähr zweitausend geschätzt. Zu einem derartigen Ereignis wird es in Deutschland wahrscheinlich nicht kommen. Der höchste Berg, die Zugspitze, wird Tag und Nacht überwacht. Jede Bewegung im Berg wird erfasst und bei außergewöhnlichen Beobachtungen werden sofort die zuständigen Stellen informiert. Intelligentes Hochwassermanagement reguliert je nach Wetterprognose die Pegelstände der Flüsse automatisch. Sollte das nicht genügen, sind wir immer noch bestens vorbereitet: Soldaten helfen Sandsäcke zu stapeln und Keller auszupumpen, mit Hilfe von Booten und Hubschraubern können Menschen aus ihren Häusern evakuiert werden. Dabei besteht die größte Herausforderung darin, widerspenstige Personen aus ihren Häusern zu holen, denn nicht alle überlassen ihr Hab und Gut freiwillig den Fluten. Sachschäden sind meistens die schlimmste Folge von Katastrophen in Deutschland und anderen „hochentwickelten“ Staaten.

Laut den Statistiken der Münchner Rück verzeichneten die USA und Japan die teuersten Schäden durch Naturkatastrophen seit 1980. Die meisten Toten forderte 2010 ein Erdbeben in Haiti und 2004 der Tsunami in Indonesien, Sri Lanka und Indien.5 Ein Bericht des Intergovernmental Panel for Climate Chance (IPCC) über Extremereignisse bestätigte 2011 die These, dass Entwicklungsländer die Katastrophen mit den meisten Toten zu beklagen hätten. Dieser Fakt kann gut mit zwei Begriffen aus dem Katastrophenmanagement erklärt werden: Exposure und Vulnerability.

Erster steht für die Ausgesetztheit von Menschen, Wohngebäuden, öffentlichen Einrichtungen, Infrastruktur und Kulturgütern in gefährdeten Gebieten. Zweiter bezeichnet die Verletzbarkeit der jeweiligen Bevölkerung, erdbebensicher gebaute Gebäude sind weniger verletzlich. Hochentwickelte Katastrophenschutzmaßnahmen verringern die Zahl der Toten bei Katastrophen und reduzieren damit die Verletzbarkeit. Die Ausgesetztheit ist in entwickelten Staaten höher und damit die ökonomischen Schäden, trotzdem sterben bei extremen Naturereignissen weniger Menschen als in Entwicklungsländern.

Der Begriff des Risikos verbindet die Wahrscheinlichkeit, dass ein Extremereignis eintritt, mit der Höhe des erwarteten Schadens. Sobald die Menschen in von Erdbeben gefährdeten Gebieten, in Küsten- oder Bergregionen leben, sind sie großen Gefahren und damit Risiken ausgesetzt. Erst recht birgt das Leben in Gebieten mit Risikotechnologien, wie Atomkraftwerken oder unterhalb von Staudämmen und in der Nähe kanalisierter Flüsse, viele Risiken. Wie aber gehen die Menschen mit den lebensbedrohlichen Gefahren in ihrem Lebensraum um? Der Katastrophen-Historiker Gerrit Schenk erklärt, dass sich Menschen an die Risiken gewöhnen und anpassen: „Wir haben als Menschheit schon immer mit diesen Gefahren gelebt und können vermutlich gar nicht anders, als auch weiterhin mit ihnen zu leben.“6 Auch genießen Menschen, die an exponierten Berghängen wohnen, eine fabelhafte Aussicht, wer will darauf schon verzichten? – No risk, no fun! – Nur sind die Menschen, die von den Vorteilen profitieren, meistens nicht dieselben, die auch die Risiken tragen müssen. Für die Ingenieure und ihre Auftraggeber ist es leicht, diese Risiken einzugehen, da sie in vielen Fällen nur von den Vorteilen profitieren und die Auswirkungen ihrer Großprojekte nicht am eigenen Leib zu spüren bekommen. Der menschgemachte Klimawandel, dessen Auswirkungen wir bereits spüren können, wird diese Ungerechtigkeiten noch verschärfen.


  1. Axel Bojanowski, Als der Berg in den See fiel, Sueddeutsche.de, 19.03.2010.
  2. Thomas Glade und Richard Dikau, Gravitative Massenbewegungen – vom Naturereignis zur Katastrophe, in: Petermanns Geographische Mitteilungen, 145, 2001/6, 47.
  3. Georg Küffner, Ein Tsunami im Stausee, Faz.net, 09.10.2013.
  4. Ulrich Clauß, Wie das Internet zum Klimakiller wird, Welt.de, 25.05.2011.
  5. Munich Re, NatCatSERVICE, 2015.
  6. Gerrit Schenk, „Risiken sind bekannt, werden im Alltag jedoch ignoriert“, Zeit.de, 15.3.2011.

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