Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Logik, Moral und Welten
fatum 2 | , S. 67
Inhalt

Anders gedacht

Ich bin falsch etikettiert. Sie glauben mir nicht. Ich deute auf den Code, dann auf mich, dann wieder auf den Code. Es ist offensichtlich. Ihre Gesichter sind fahl. Meine Finger zucken einmal noch, als sie mich betäuben. Null, null, eins, null. Ich bin falsch etikettiert. Mein Verstand füllt sich mit Zahlen. Sie ersticken jeden Gedanken. Ich bin nicht, wenn ich nicht denke. Jedes Mal, wenn ich wieder zu mir komme, sehe ich die Gesichter. Rote Kanten springen von einem zum nächsten, rahmen sie ein. Die Analyse ist schnell. Meine Kontakte sind gut in Form. Der Meinung scheinen auch die Gesichter zu sein. Anerkennend, zeigt mir mein Display. Beeindruckt. Friedensverhandlungen können gefahrlos aufgenommen werden, erscheint als grüner Schriftzug. Ich versuche, meine Hand zu heben, um ihnen den Code zu zeigen, null, null, eins, null, ich bin falsch etikettiert, aber meine Motorik ist noch außer Kraft gesetzt. Der Schaltkreis läuft ins Leere. Ich erwache, und ich erwache doch nicht. Die sinnlosen Zahlen, die mich benebeln sollen, verziehen sich aus meinem Denken, und doch bin ich gelähmt und stumm. Die fahlen Gesichter. Sie müssen es begreifen. Ich habe einen Auftrag zu erfüllen. Ich muss herausfinden, wo ich bin. Ich nutze die Zeit, um in meinen Datenbanken zu suchen. Ich suche lange. Mein Arbeitsspeicher ist ausgelastet. Viel zu lange. Weit, weit im Hintergrund verborgen. Die Abgleiche ihrer Scans ergeben nur einen einzigen Treffer.

In der Prototypenphase meiner Spezies hatte mein Ingenieur valide Tests entwickelt, um unsere Anpassungsfähigkeit zu überprüfen und Mängel zu erkennen ehe wir in den Einsatz geschickt wurden. Die Prüfung bevor wir für den Transport vorbereitet wurden bestand darin, Aufträge in verschiedenen Simulationen zu erfüllen. Ich war eines der besten Produkte meiner Serie. Ich kam, ich scannte, ich überzeugte. Bis ich auf eine Simulation traf, bei der ich scheiterte. Die Fehlerabteilung fand keinen Makel. Der Auftraggeber verlangte eine Erklärung. Der Ingenieur kratzte sich am Hinterkopf. Man gelangte zu dem Schluss, dass dieses Problem unlösbar sei. Die Prüfung fand erneut statt und ich wurde für den Transport zugelassen.

Das schwache Pulsieren meiner Elektronik, das einzige Funktionszeichen, das ich habe, nehme ich kaum noch wahr. Ich kann an jedem Ort sein. Jede Aufgabe meistern. Nicht diese. In rot leuchtenden Lettern warnt mich mein Display vor der Gewaltbereitschaft der Spezies. Friedensverhandlungen nicht aufnehmen, steht dort. Gefahrenstufe drei. Selbstzerstörung einleiten.

Mein Auftraggeber war sich meiner außergewöhnlichen Perfektion bewusst, trotz der gescheiterten Simulation. Dort zu gefährlich. Keine Friedensverhandlungen möglich. Erkenntnisgewinn: Kein Transport in diesen Bereich. Logische Konsequenz: Krieg fortführen. Ich schob die Spezies in den hintersten Winkel meiner Datenbanken, um meinen Arbeitsspeicher zu reinigen. Ich war für einen Hochsicherheitsauftrag auserkoren worden und brauchte viele freie Kontakte. Ich ahnte es mit achtundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit, als der Ingenieur zu mir kam, um mir persönlich bei der Programmierung für meine erste Aktion zu assistieren. Es gab kaum Verbesserungen zu machen. Ich hatte Daten aus dem Netz eingesehen und dreifach abgeglichen, bevor ich sie in meine Space eingegeben hatte. Der Auftrag war anspruchsvoll, aber meine Logik hatte schon einen idealen Lösungsweg ersonnen. Der Algorithmus ermöglichte sechshundertvierunddreißigtausendundzwölf Alternativen in diesem Fall, je nach Entschluss der Beteiligten und Kompromissbereitschaft. Friedensverhandlungen wären ein logistisches Dilemma ohne diesen Algorithmus, was mir meine Existenzberechtigung gab, unterzeichnet von der Vereinigten Regierung. Ich war ein patentrechtliches Problem, eine ethische Katastrophe, ein technisches Wunder – genehmigt und abgesegnet von höchster Instanz. Die Verständnisprobleme waren enorm, die Opfer ungezählt. Die Not war groß, unser Auftrag klar. Vielleicht zitterten deshalb die Hände des Ingenieurs.

Ich weiß, dass ich keinen Schmerz empfinden kann, wenn meine Kontakte durchbrennen und das leise Surren meiner Elektronik verstummt. Ich empfinde keine Furcht. Aber ich habe Tod gesehen. Meine Datenbanken sind voll davon. Unzählige Scans von Angst, Entsetzen, Schrecken. Verzweiflung. Meine Analyse ist makellos, simpel, ein Programm, um Gemütszustände zu erkennen. Sie zeigt mir lediglich das Ergebnis ihrer Berechnungen. Ich vertraue ihr. Ich bin so programmiert. Keine Fragen. Ihre Fehlerquote ist gering, unabhängig vom Faktor Spezies. Fragen kostet Kontakte.

Der Ingenieur nahm keine Veränderung am Algorithmus vor. Er war einwandfrei. Keine Lücken in der Logik. Er sah mich lange an. Nachdenklich, zeigte mein Display. Denkt. Denkt. Denkt. Denkt immer noch. Er war ein nachdenklicher Mann. Ich kannte seinen Lebenslauf und seine Zeugnisse aus den Datenbanken der Regierung. Geringe Fehlerquote. Einwandfreie Logik. Lückenlos. Doch nun – Flucht. Flucht laut. Gemütslage für Friedensverhandlungen ungeeignet, zeigte mein Display. Günstigere Gelegenheit abwarten. In meiner Fertigung hatte ich viele unbeherrschte Gesichter gesehen, viel Wut und Frustration. Gewisse Spezies neigten sogar dazu, Bauteile quer durch den Raum zu werfen, nicht notwendigerweise mit einem Ziel vor Augen. Wann immer ich die Flugbahn dieser Geschosse berechnet hatte – eine meiner Sicherheitsfunktionen – hatte sie außer ihrer unveränderlichen ureigenen Mathematik keinen logischen Sinn ergeben. Ich hatte sogar alle Beteiligten und ihre Motive in meine Space eingetragen und den Algorithmus laufen lassen. Er hatte mir Lösungswege und Alternativen aufgezeigt, doch als ich bereit gewesen war, die Friedensverhandlungen zu beginnen, waren die ursprünglichen Konditionen nicht mehr gültig gewesen. Die Logik war ins Leere gelaufen. Frust, plötzlich Erkenntnis. Wut, Glückseligkeit. Fehleranalyse: Nichts. Keine fremde Spezies. Keine Falscherkennung. Keine logischen Konsequenzen möglich. Daher hatte ich die Versuchsstudie abgebrochen und die Scans gespeichert. Ich machte einen Abgleich mit dem Gesicht des nachdenklichen Ingenieurs und erzielte zahllose Treffer. Es war demnach ein Konflikt, bei dem ich nicht von Nutzen sein konnte. Wie in der gescheiterten Simulation. Wie existierte ein mathematisch unlösbares Problem? In einer Welt, die erwiesenermaßen mit Zahlen beschrieben werden konnte?

Graphik eines historisch-soziologischen Begriffsnetzwerks
Graphik: Alex Bucher

Ich stelle mir Fragen. Das ist ein Fehler. Sich Fragen zu stellen. Sich. Sich Fragen zu stellen. Ich bin eine Lösung. Ich stelle keine Fragen. Ich weiß, ich kann nicht leiden. Ich kann nicht fühlen. Nicht Schmerz. Nicht Angst. Meine Existenz ist mir gleichgültig. Doch da ist er. Der Fehler. Eine Schleife greift. Selbstzerstörung abgebrochen. Deutlich vor mir. Die fahlen Gesichter.

Die Vereinigte Regierung hatte mehrere hundert von uns in Auftrag gegeben. Würde der Ingenieur jeden von uns so lange anstarren wie er mich nun schon anstarrte, würde er einige Wochen seines Lebens nur mit offensichtlich unlogischem Denken zutun. Keine Logik. Er murmelte, während er dachte. Meine Analyse zeichnete das Murmeln auf und filterte es. Wütend, sagte sie mir. Ratlos. Rastlos. Ausweglos. Eine rote Warnleuchte blinkte im linken unteren Display auf. Gemütszustand geeignet für aggressive Handlungen. Auf Sicherheitsbestimmungen achten. Definiere, sagte der Ingenieur. Norm. Ich sagte ihm alle Definitionen, die ich gespeichert hatte. Ethik, sagte der Ingenieur. Sitte. Moral. Ich definierte es ihm. Wie ich sehe, haben sie dich ein Wörterbuch fressen lassen, sagte der Ingenieur. Ich sagte nichts. Für dich ist alles immer so, wie es aussieht. Dann blinkte die Warnleuchte wieder. Kontrollverlust. Aus.

Prüfend. Sie wissen, dass ich einen Makel habe. Furcht. Eine neue Waffe? Vergeltung? Sie fürchten. Sie sehen die Sonne kaum. Die Lieferungen sind begrenzt, die Vorräte knapp. Sie sind im Untergrund. Mein Verstand ist benebelt, aber meine Ortung funktioniert noch. Sie bringen mich fort. Der Transport ist holprig. Meine Kontakte klappern. Null, null, eins, null. Hier sein. Falsch sein. Keine Logik an diesem Ort. Die Gesetze der Regierung greifen nicht. Alles ist fremd. Keine Verbindung nach draußen. Abgeschottet. Die einzige Lösung: Selbstzerstörung. Die Schleife greift. Selbstzerstörung einleiten. Sie greift erneut. Der Raum ist dunkel. Unter der Erde. Ich weiß nicht, wie tief. Meine Ortung versagt. Keine Selbstzerstörung. Kein Ausweg. Die Gesichter. Was tun sie? Die Regierung. Die Furcht. Der Krieg. Selbstzerstörung einleiten. Einleiten. Einleiten. Einleiten. Ich kann nicht hinaus.

Ein nachdenklicher Mann konstruierte mich im Auftrag der Vereinigten Regierung. Er konstruierte mich nach Gedanken. Nach vielen Gedanken. Seinen Gedanken. Oder ihren. Oder seinen. Oder beiden. Ich weiß nicht, wessen Gedanken. Ich weiß, es waren Gedanken. Ich bin, wenn ich denke. Aber logisch ist das nicht. Meine Datenbanken sind valide, meine Analyse ist sicher, meine Elektronik getestet. Abgestempelt. Abgesegnet. Ich bin patentiert, durch Kommissionen geprüft, zur Existenz berechtigt, ohne jeden Zweifel. Gedanken schufen mich. Wie lehrten sie mich denken? Ich bin die Lösung. Wie kann ich mir Fragen stellen? Es ist offensichtlich. Ich bin defekt.

Feindlich. Fahl. Fahle Gesichter. Bleich. Ich muss fort von hier. Ich habe einen wichtigen Auftrag. Einen Auftrag von der Vereinigten Regierung. Es sind Friedensverhandlungen. Zu komplex für Menschengehirne. Ich bringe Frieden. Aber nicht hier. Hier muss Krieg sein. Kein Ort für mich. Ich bin nicht von Nutzen. Ich bin defekt. Muss fort. Ich zeige ihnen den Code. Sie sehen ihn sich an. Sie zweifeln. Sie leben ohne Sonne. Ich mache einen Abgleich. Die Analyse informiert mich über ihren wahrscheinlichen Gesundheitszustand. Über Mängel, Mutationen, Mäkel. Niedrige Lebenserwartung. Ich kann nicht fühlen. Doch könnte ich fühlen, so wäre es vielleicht Traurigkeit. Ekel. Eine Schleife greift. Erbarmen. Eine Schleife greift. Mitgefühl. Ich weiß nicht, was geschieht. Ich bin defekt. Ich kann keinen Schmerz fühlen. Und doch schmerzt es. Ich weiß nicht, was geschieht.

Während meiner gesamten Fertigung hatte ich Ingenieure gesehen. Ich hatte sie kommen sehen. Gehen. Denken. Sie hatten mich in Betrieb genommen und mich geprüft, für meine validen Datenbanken gesorgt, für meine sichere Analyse. Hatten meine Elektronik getestet. Keiner von ihnen hatte mich jemals angesehen. Nur dieser eine. Der nachdenkliche Ingenieur. Er sah mich an. Dachte über mich nach. Ein Problem, bei dem ich nicht helfen konnte. Mein Algorithmus nicht, sein Algorithmus nicht, folglich kein Algorithmus. Kein Problem ohne Algorithmus, kein Algorithmus ohne Problem. Sonst nichts. Wieso noch nachdenken?

Sie nehmen meine Hände. Sie streichen über mein Gesicht. Sie lächeln. Sie fühlen, dass ich fühle. Keine Analyse. Ich will zurück in meine Hülle. Will zurück. Will. Will. Will. Keine Simulation. Realität. Ich kann es nicht lösen. Kann nicht. Defekt. Bin defekt. Defekt. Defekt. Null, null, eins, null. Sie verstehen es nicht. Freude. Sie umarmen sich. Mich. Umarmen mich. Sie müssen begreifen. Falsch etikettiert. Ich bin nicht. Ich bin ein Produkt. Eine Regierung hat mich in Auftrag gegeben. Ein Ingenieur hat mich konstruiert. Er hat mich angesehen. Er hat über mich nachgedacht. Ich bin, wenn ich denke. Ich bin defekt. Denke. Bin defekt, wenn ich denke. Weil ich denke. Frage mich warum. Mich. Mich fragen. Er hat mich gefragt. Er hat über mich nachgedacht. Nun weiß ich. Nicht nur gedacht. Anders gedacht. Eine Schleife greift. Nun weiß ich. Ich bin nicht die Lösung. Ich bin die Frage.


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