Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Logik, Moral und Welten
fatum 2 | , S. 62
Inhalt

Das Prinzip Fusionas

Welche moralische Pflicht haben wir, an der Fusion als Energiequelle der Zukunft zu forschen?

Die Sonne ist erstaunlich. Seit Jahrmilliarden liefert sie der Erde so viel Energie, dass aus einer wüsten, unbewohnbaren Steinöde ein florierendes Ökosystem mit hochentwickelten Lebewesen werden konnte. Seit jeher benutzen wir die Energie der Sonne für unsere Zwecke, sei es in der Landwirtschaft, zum Wäschetrocknen oder zur Stromerzeugung. Heute sind wir in der Lage, ihre Strahlungsenergie durch Solarkollektoren und Photovoltaikzellen in elektrischen Strom umzuwandeln. Noch scheint es keine Möglichkeit zu geben, die Sonnenenergie direkter zu nutzen. Doch was, wenn wir unsere eigene Sonne hier auf der Erde hätten? Wenn wir eine Maschine bauen könnten, die genauso wie die Sonne funktioniert und uns verlässlich und ununterbrochen Energie zur Verfügung stellt? Welche Hürden sind wir bereit, dafür zu nehmen? Und welche Verantwortung haben wir gegenüber unseren Kindeskindern, saubere, nachhaltige Energiequellen zu entwickeln?

Erst im frühen 20. Jahrhundert wurde Schritt für Schritt das Prinzip entdeckt das die Sonne befeuert: In ihrem Inneren herrschen derart hohe Drücke und Temperaturen, dass leichte Wasserstoffatome zu schwereren Heliumatomen verschmelzen. Dieser Prozess heißt Fusion. Er setzt eine enorme Menge Energie frei, von der nur ein Teil dafür sorgt, dass die Reaktion in Gang bleibt; der Rest wird abgestrahlt. Die Fusion gilt als Umkehrprozess der Kernspaltung und wurde wie diese während des atomaren Wettrüstens nach dem Zweiten Weltkrieg als Waffe entwickelt.

Erst in den Sechzigerjahren begann man damit, die Fusionsenergie zivil nutzbar zu machen. Die Vision: Eine unerschöpfliche, saubere Energiequelle, die von quasi unbegrenzt verfügbaren Rohstoffen gespeist werden kann. Das Max-Planck-Institut für Plasmaphysik (IPP) wurde 1960 in Garching bei München gegründet und beschäftigt sich seitdem mit der Grundlagenforschung für ein funktionsfähiges Fusionskraftwerk. Mit zahlreichen erfolgreichen Experimenten hat das IPP beachtliche Erfolge erzielt bei der Erforschung der notwendigen Bedingungen für eine Maschine, die das Sonnenfeuer auf der Erde nachstellt.

Diese Bedingungen sind extrem: In einer ringförmigen Vakuumkammer wird Wasserstoffgas auf über 100 Millionen Grad Celsius erhitzt. Bei dieser Temperatur lösen sich die Elektronen von den Atomkernen und bilden ein Plasma – der vierte Aggregatzustand neben fest, flüssig und gasförmig. Da kein bekannter Werkstoff derartigen Temperaturen standhalten könnte, darf das Plasma die Gefäßwände nicht berühren. Nur ein komplex gestaltetes Magnetfeld kann dieses Problem lösen, indem es das Plasma stark komprimiert und schwebend einschließt. In der Kammer außerhalb des Plasmas herrscht dabei ein Ultrahochvakuum, da selbst kleinste Verunreinigungen, wie etwa fremde Moleküle, das Plasma abkühlen und die Zündung der Fusion verhindern könnten. Die für das Magnetfeld nötigen Spulen bilden einen gigantischen Käfig und werden in der Regel auf eine Temperatur nahe dem absoluten Nullpunkt gekühlt um eine verlustfreie Stromübertragung zu ermöglichen. In einem Fusionsreaktor liegen Superlative also nahe beieinander. Der heißeste Ort, der erzeugt werden kann, liegt direkt neben dem kältesten, durch nur wenige Zentimeter hochlegierten* Stahls getrennt. Während im Plasma die größtmögliche Teilchendichte vorherrschen sollte, schwebt selbiges am Besten in einem teilchenfreien Raum. Die gigantischen Wärmemengen, die bei der Fusion frei werden, müssen zudem irgendwie aus dem Reaktor abgeführt werden – von Wärmetauschern, die noch zu entwickeln sind, aus Werkstoffen, die an der Grenze des physikalisch machbaren sind, vorbei an den ultrakalten Magnetspulen.

In den Anfängen der Fusionsforschung passten die entsprechenden Experimente noch auf Labortische. Bald stellte sich aber heraus, dass größere Plasmavolumina den Zündbedingungen einer Fusion besser entsprechen. Die Experimente begannen zu wachsen, die Magnetfeldkäfige wurden komplexer und ausgefeiltere Messtechnik ermöglichte eine genauere Beobachtung und präzisere Steuerung des Plasmas. Das Experiment ASDEX Upgrade, das 1991 am IPP aufgebaut wurde und bis heute in Betrieb ist, hat beispielsweise eine mannshohe Plasmakammer und einen ähnlich großen Radius. Die Halle, in deren Mitte die Anlage steht, ist so groß wie ein Konzertsaal und vollgestellt mit Geräten zum Heizen und Beobachten des Plasmas. Dort wird Grundlagenforschung betrieben, um das Verhalten des Plasmas und dessen Wechselwirkungen mit den umgebenden Wänden besser verstehen zu können. Parallel dazu gibt es weltweit zahlreiche nationale und internationale Projekte, mit denen die Kraftwerkstauglichkeit der Fusion nachgewiesen werden soll. Das Experiment JET (Joint European Torus) im englischen Culham ist ein europäisches Gemeinschaftsprojekt mit einem Plasmavolumen, das etwa sechsmal so groß ist wie das von ASDEX Upgrade. 1997 gelang es, etwa 65 Prozent der zugeführten Energie durch Fusion wieder zu erzeugen – ein bis heute unübertroffener Wert. Doch erst das Nachfolgeprojekt ITER (International Thermonuclear Experimental Reactor), das derzeit im französischen Cadarache in internationaler Zusammenarbeit aufgebaut wird, soll mehr Energie erzeugen als die Heizung des Plasmas, die Kühlung der Magneten und der restliche Betrieb der Anlage insgesamt verbrauchen. Das Plasmavolumen von ITER wird jenes von JET nochmals um den Faktor zehn übertreffen und es damit ermöglichen, zehnmal so viel Energie zu erzeugen, wie zum Aufheizen verbraucht wird. Es ist ein gigantisches Vorhaben, das von den Staaten China, Indien, Japan, Russland, Südkorea, den USA und der Europäischen Atomgemeinschaft getragen wird. Es ist daher nicht nur ein technisches, sondern auch ein politisches Experiment: Zähe, jahrelange Verhandlungen zwischen den Bauherren führten unter anderem dazu, dass Verantwortlichkeiten für einzelne Bauteile derart aufgesplittet wurden, dass kaum eine Komponente der Anlage von weniger als zwei Partnern gefertigt wird – einschließlich der damit verbundenen Gefahr von Fehlern während der Montage, enormen Kostensteigerungen und Verzögerungen. All diese Faktoren können zudem auf politischer Ebene immer noch dazu führen, dass ein Partner aus Angst, das Projekt könne an den finanziellen und technischen Hürden scheitern, abspringt und damit die eigene Prophezeiung des Scheiterns erst erfüllt.

Zu Beginn der Forschungen in den Sechzigerjahren rechnete man damit, bereits Ende des 20. Jahrhunderts erste kommerzielle Fusionskraftwerke bauen zu können. Mit den Jahren taten sich trotz vieler Erfolge in den Experimenten allerdings stets neue Herausforderungen auf, sodass aktuell mit einem Nachweis der Wirtschaftlichkeit von Fusionskraftwerken nicht vor dem Jahr 2050 zu rechnen ist. Ein flächendeckender Einsatz dieser Methode der Energieerzeugung wird gar erst für das letzte Viertel des Jahrhunderts in Aussicht gestellt.

Inneres eines Fusionsreaktors.
Fotomontage des Vakuumgefäßes von JET im Ruhezustand (links) und im Plasmabetrieb (rechts). Quelle: EUROfusion

Wenn es aber noch mindestens 30 Jahre dauern wird, bis man unter größtem Ressourceneinsatz überhaupt erst entscheiden kann, ob die Technik sich zur Energieerzeugung eignet, lohnt sich diese Investition dann? Sollten wir weiterhin erhebliche Summen in diese Forschung stecken, auch wenn erst unsere Kindeskinder davon profitieren können? Nun, zunächst handelt es sich bei der Erforschung der Kernfusion um Grundlagenforschung, die primär gar nicht auf konkrete, anwendbare Ergebnisse ausgerichtet ist. Diese Antwort ist allerdings unbefriedigend, denn zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung wird die Höhe des Etats für Grundlagenforschung durchaus von der Anwendbarkeit ihrer Ergebnisse beeinflusst. Es bleibt also die Reichweite unserer Verantwortung gegenüber zukünftigen Generationen.

Der deutsche Philosoph Hans Jonas veröffentlichte 1979 ein Buch mit dem Titel Das Prinzip Verantwortung, in dem er feststellt, dass vorherige Ethiken fundamentale Schwächen haben. Klassische Ethiken konzentrieren sich, so Jonas, auf den sogenannten Nahbereich der menschlichen Verantwortung. Das heißt: Wirkungen menschlicher Handlungen zeigen sich in unmittelbarer Nähe zur Handlung und bedürfen keiner vorausschauenden Planung. Kants kategorischer Imperativ wird von Jonas als Beispiel dafür herangezogen, dass in allen Maximen bisheriger Ethiken der Handelnde und der „Behandelte“ die gleiche Gegenwart teilen. Seit dem Beginn der industriellen Revolution hat sich der Verantwortungsbereich des menschlichen Handelns mit der Verbreitung moderner Technik aber drastisch erweitert. Handlung und Wirkung sind jetzt mitunter räumlich und/oder zeitlich derart weit voneinander entfernt, dass die Wirkung einer Handlung vom Individuum nicht mehr ohne weiteres in die Reflexion mit einbezogen werden kann. Die Freisetzung von Fluorchlorkohlenwasserstoffen (FCKW) seit Mitte des 20. Jahrhunderts und der dadurch verursachte Abbau der Ozonschicht der südlichen Erdhemisphäre ist ein gutes Beispiel hierfür. Weder die Hersteller FCKW-haltiger Produkte noch die Konsumenten in Europa, Nordamerika oder Asien waren zunächst in der Lage, die Folgen abzusehen, die ihre Handlungen haben würden. Der merkliche Abbau der Ozonschicht trat in einem völlig anderen Teil der Erde – nämlich über der Antarktis – und mit einer Verzögerung von vielen Jahren auf. Hierbei handelt es sich noch um eine vergleichsweise einfache, lineare Kausalkette, deren Zeitspanne innerhalb einer Generation liegt. Die Forschung an der Kernfusion hat hingegen schon mindestens zwei Generationen von Wissenschaftlern beschäftigt und wird das Engagement von mindestens zwei weiteren brauchen, um nutzbare Ergebnisse zeigen zu können.

Die Frage nach der Finanzierung ließe sich in diesem Lichte umformulieren: Welche Verantwortung haben wir gegenüber den kommenden Generationen, saubere, nachhaltige Energiequellen zu finden? Jonas setzt bei Kants kategorischem Imperativ an: „[H]andle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“1 Die Grundüberlegung dieser Moral sei selbst keine moralische, sondern eine logische. In einer Gesellschaft vernünftiger Akteure muss es logisch, das heißt ohne Selbstwiderspruch möglich sein, die Maxime des eigenen Handelns als allgemeines Gesetz zu nehmen. Die Kantische Formulierung schließe aber nicht aus, dass trotz logischer Konsistenz das moralisch einwandfreie Verhalten der Gesellschaft in jeder Generation zu einer Degradation und letztlich zum Untergang führt. Gegenwärtige Generationen könnten sich also ohne Selbstwiderspruch dem Kantischen Gesetz gemäß moralisch richtig verhalten und trotzdem durch die Wirkungen ihrer Handlungen die Existenz zukünftiger Generationen bedrohen. Jonas schlägt daher einen neuen, ergänzenden Imperativ vor: „Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden.“2 Dass die Menschheit bestehen bleiben soll, sei freilich nur schwer, wenn überhaupt, zu begründen und wird von Jonas daher axiomatisch vorausgesetzt.

Bezogen auf die Fusionsforschung ergibt sich aus diesem neuen Imperativ, dass nicht nur unterlassen werden soll, was zukünftigen Generationen in ihrem Menschsein schadet, sondern umgekehrt auch getan werden muss, was echtes menschliches Leben weiterhin ermöglicht. Wesentlicher Bestandteil hiervon ist aber gerade die Energieversorgung. Wenn die Bevölkerung und ihr Pro-Kopf-Verbrauch an Energie weiterhin wächst, die Reserven an fossilen Brennstoffen zur Neige gehen und der öffentlich Druck auf die Politik dazu führt, dass Atomkraftwerke nicht mehr länger neu gebaut werden, dann müssen rechtzeitig alternative Energiequellen zur Verfügung stehen. Die Formulierung „echtes menschliches Leben“ mag vage und dehnbar sein – aber schon die Grundbedürfnisse Nahrung, Unterkunft und Gesundheit bereitzustellen, kostet eine Menge Energie.

Auch wenn die Machbarkeit eines Fusionskraftwerkes noch nicht nachgewiesen ist, so ist dies kein Grund, die Forschung daran nicht fortzusetzen. Schließlich lässt sich immer erst im Nachhinein sagen, ob ein Experiment erfolgreich war. Und gäbe es die Möglichkeit, zukünftige Generationen um ihre Meinung zu bitten, so wären diese mit Sicherheit stark an einer solchen Entwicklung interessiert. „Die ‚Zukunft‘ aber ist in keinem Gremium vertreten; sie ist keine Kraft, die ihr Gewicht in die Waagschale werfen kann. Das Nichtexistente hat keine Lobby und die Ungeborenen sind machtlos.“3 An anderer Stelle wurde deshalb schon die Einrichtung einer dritten Kammer in demokratischen Parlamenten gefordert, die ausschließlich Interessen zukünftiger Generationen verträte und somit vom Prinzip Verantwortung geleitet würde.

In Südfrankreich wird währenddessen an der Zukunft gebaut. Das erdbebensichere Fundament der Haupthalle von ITER, auf dem der 23.000 Tonnen schwere Reaktor ruhen wird, wurde im vergangenen Jahr fertiggestellt. Angesichts der schieren Größe der Baustelle und ihrer Komponenten, der organisatorischen Herausforderungen und des enormen Ressourceneinsatzes ist die Frage berechtigt, ob es sich tatsächlich um ein aussichtsreiches Konzept für eine zukünftige Gesellschaft handelt. Schließlich steht derzeit im Raum, das Stromnetz zu dezentralisieren und mit Photovoltaik, Windenergie und Energiespeichern möglichst flexibel zu gestalten. Aber auch ein solches Netz kann nicht vollständig auf größere Kraftwerke zur Abdeckung der Grundlast verzichten. Andere Bedenken betreffen die Monopolstellung, die Industriestaaten durch eine derart anspruchsvolle Technik festigten. Oder die Frage der Nachhaltigkeit dieser Energieform – was allerdings weniger den Verbrauch von Rohstoffen beim Betrieb sondern für den Aufbau betrifft.

Solche Fragen müssen ernst genommen werden. Sie deuten darauf hin, dass Fusion alleine nicht die Patentlösung für alle Energieprobleme werden wird. Fusionsenergie könnte aber ein wichtiger Baustein für die Energieversorgung der Zukunft sein. Die Beantwortung der Frage ihrer Realisierbarkeit kann selbst nur in der Zukunft liegen. Vielleicht werden wir eines Tages die Sonne auf die Erde holen können. Wichtig ist, dass an diesem Tag noch jemand da sein wird, um sie zu bewundern.


  1. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Riga: Johann Friedrich Hartknoch, 1786), 52.
  2. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung, (Frankfurt am Main: Insel Verlag, 1985), 36.
  3. Ibid, 55.

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