Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Logik, Moral und Welten
fatum 2 | , S. 35
Inhalt

Im Namen der Willkür

Die Logik der Politik war ein zentrales Thema bei der Gründung der Zweiten Sozialistischen Internationale 1889 in Paris. Diese Versammlung der einflussreichsten sozialistischen Theoretiker regte tiefe Diskussionen darüber an, wie sich das Verhältnis zwischen zentralen sozialen Kategorien und politischen Identitäten gestaltet: der Partei, der Revolution und letztendlich der marxistischen Theorie.

Nach der marxistischen Theorie determiniert die Entwicklung der sogenannten Basis, das ist die Summe der Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse, die Entwicklung des Überbaus der Gesellschaft. Hierzu zählen beispielsweise die religiösen bzw. juristischen Vorstellungen und die Politik (unter anderem die Form des Staats), im Wesentlichen also alle gesellschaftlichen Bewusstseinsformen.

Die Entwicklungsstufe der Produktionsverhältnisse entspricht der Entwicklungsstufe der Produktionskräfte, die des Überbaus hingegen entspricht der Entwicklungsstufe der Basis. Wenn sich die Produktionskräfte weiter entwickeln, entsteht ein Widerspruch mit den Produktionsverhältnissen. Dieser Widerspruch führt zu einer Revolution der Gesellschaft, sodass die Gesellschaft ihren Produktionsmodus überwirft und zum nächsten wechselt. Der Produktionsmodus bestimmt die sozialen Kategorien (Klassen), die sich in einem Klassenkampf (Bauern/Feudalisten, Arbeiter/Bourgeoise) befinden. Innerhalb dieses Klassenkampfes entwickelt sich das Klassenbewusstsein des Proletariats: von einer Klasse an sich, die nur durch ihre Stellung in der Gesellschaft erfasst wird, aber nicht politisch aktiv ist, zu einer Klasse für sich, die zu eigenen Zwecken politisch handelt und kämpft.

Wenn das Paradox seine Grenze erreicht, entwickelt sich die proletarische Revolution, die alles entscheidet. Diese Entwicklung ist unvermeidbar und vorher historisch determiniert nach den kausalen Gesetzen des historischen Materialismus. Nach dieser Auffassung scheint die Politik ein auf die wirtschaftliche Ebene reduziertes Phänomen zu sein; sie ermittelt einen Bereich für den Klassenkampf, der nur auf der Ebene der Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Das Proletariat übernimmt zwar innerhalb der Politik die Macht über den Staat und ändert die Produktionsverhältnisse, aber dieses Ereignis ist im marxistischen historischen Materialismus nur eine notwendige Folge eines kausal determinierten Prozesses.

Es kam mit der Zweiten Internationalen zur Krise des Marxismus, als die Realität nicht mehr der Theorie entsprach. Zur Revolution war es nicht gekommen, die Arbeiter (bzw. viele von ihnen) hatten sich anders verhalten, als man nach der Theorie erwartete. Mit diesen Fakten war die Zweite Internationale konfrontiert und hatte zur Aufgabe, eine neue „politische“ Strategie aus der Theorie zu entwickeln. Unterschiedliche Versuche wurden vorgelegt. Manche versuchten, durch die Verweigerung des historischen Determinismus die Theorie grundsätzlich zu ändern. Ein Versuch, die Theorie des historischen Materialismus zu retten, wurde zuerst vom deutsch-tschechischen Philosophen und Politiker Karl Kautsky (1854–1938), Hauptvertreter des orthodoxen Marxismus, und später von Lenin vorgestellt.

Veranschaulichung der Zirkularität des Arguments

Laut Kautsky und Lenin kann die Entwicklung des revolutionären Bewusstseins des Proletariats nicht allein durch wirtschaftliche Faktoren geschaffen werden, sondern das Bewusstsein muss durch die Kaderpartei und ihre Intellektuellen von außen herbeigeführt werden. Sie können das Proletariat von ihrem falschen Bewusstsein befreien, sodass sie sich für sein revolutionäres Programm engagiert. Nun stellt sich also die Frage, warum die Partei ihre Rolle als Bewusstseins-Überträgerin innerhalb der marxistischen Theorie einnehmen soll. Die Antwort lautet: Weil sie die wahre Theorie (Marxismus) schon haben. Man merkt sofort, dass es sich logisch um ein zirkuläres Argument handelt:

Dass Politik eine menschliche Handlung darstellt ist der Hauptgrund, an dem die Theorie zusammenbrach. Nimmt man allerdings an, dass die Gesellschaft sich nach kausalen Gesetzen entwickelt, dann wird die Politik nur als eine Erscheinung dieser Gesetze verstanden. Sogar Kautsky, Lenin und weiteren Theoretikern war bereits bewusst, dass die Politik einerseits entscheidend für die soziale Entwicklung und andererseits nicht auf die kausalen Gesetze der Theorie reduzierbar war. Um die Theorie zu retten, wurde von ihnen ein interventionistisches Programm vorgeschlagen; aber wie könnte man ein solches Programm innerhalb einer Theorie, die aus kausalen deterministischen Gesetzen besteht, rechtfertigen?

In der Philosophie des Geistes trifft man auf ein analoges Problem: Ersetzt man in der obigen Argumentationskette einfach die Wörter „Politik“ durch „Geist“ und „Basis“ durch „Gehirn“, erhält man einen beliebten Argumentations- und Begründungsmodus der gegenwärtigen Neurophilosophie, den Physikalismus. Der Physikalismus ist eine Antwort auf das sogenannte Leib-Seele-Problem, das durch die Frage, ob der Geist und der Körper die gleiche Substanz sind oder nicht, entstand. Er bezeichnet die Position, dass der Geist ein Produkt (ein reduzierbares Phänomen) des Gehirns ist. Innerhalb des Physikalismus wurden verschiedene Theorien vorgeschlagen, wie der Geist auf die Ebene der Aktivität des Gehirns reduziert werden könnte. Was uns hier interessiert ist lediglich das Reduktionistische an dieser These, unabhängig davon, ob diese Reduzierung funktional oder eliminativ geschaffen wird. Kern des Physikalismus ist, dass unsere geistigen Zustände durch kausale Naturgesetze, welche bei unserem Gehirn wirken, bestimmt werden.

Der freie Wille und die Kriminalität sind bekannte Themen bei heutigen Diskussionen in der Neurowissenschaft. Mit der Annahme der obigen Reduktionsthese behauptet man, dass der freie Wille nur eine Erscheinung ist, die durch einen durch Naturgesetze determinierten Prozess entschlüsselt wird (wie zum Beispiel beim Libet-Experiment). Was als freier Wille erscheint, ist nach der Reduktionsthese eigentlich bereits durch die Verschaltungen der Neuronen bestimmt. Das gleiche gilt auch für andere komplexe soziale Phänomene, wie etwa die Kriminalität: Ein Verbrecher zu sein ist durch einen Defekt im Gehirn determiniert, so die These von Gerhard Roth.1 Sowohl der freie Wille als auch die Kriminalität sind nach der Reduktionsthese biologisch determinierte Phänomene.

Falls Kriminalität ein biologisch determiniertes Phänomen ist, wäre es laut Roth möglich, sie durch medizinische Intervention zu „heilen“. Ist diese medizinische Intervention jedoch auch selbst biologisch determiniert? Laut der Reduktionsthese muss sie determiniert sein, da diese Entscheidung durch einen biologisch determinierten Prozess getroffen wird. Anders ausgedrückt: Die Entscheidung, einen deterministischen Vorgang zu ändern, ist selbst auch ein determiniertes Phänomen. Wenn dies der Fall ist, dann macht es keinen Sinn mehr, weiterhin über Intervention im Sinne einer absichtlichen Tat zu sprechen. Innerhalb einer kausal deterministischen Welt wäre es sinnlos zu glauben, es gäbe falsch und wahr, Gut und Böse, Intervention, Entscheidung und Verantwortung.

In seiner Kritik an das wissenschaftliche Hirnforschungsprogramm erläutert Peter Janisch diesen Punkt: „[…] der Unterschied von Erkenntnis und Irrtum kann in kausalen determinierten Systemen überhaupt nicht vorkommen… Weil wir mit denselben organismischen Ausstattungen irren, mit denen wir auch erkennen, kann Erkennen keine Kausalwirkung des neuronalen Apparats sein? Er ist nicht ‚kausal determiniert‘, das heißt, die Beschreibung als kausal determiniert ist falsch.“2

Ein determiniertes System wie ein Rechner kann nicht irren, er berechnet, seinen kausalen Gesetzen folgend, die Antwort auf die Frage „Was ist 3 × 6?“, aber ob die Antwort falsch oder richtig ist, kann das System nicht aussagen. Nur ein Beobachter, der sich außerhalb des Systems befindet, kann beurteilen, ob die Antwort wahr oder falsch ist. Würde dieser Beobachter aber selbst wiederum auf ein determiniertes System reduzierbar sein, würde dieser Unterschied zwischen ursprünglichem System und dem Beobachter keinen Sinn mehr machen.

Wie kann der Determinismus (biologisch oder soziologisch usw.) also ein interventionistisches Programm innerhalb seines Beschreibungssystems rechtfertigen? Diese Frage scheint streng genommen, nicht beantwortbar zu sein. Das Subjekt, welches das beobachtete System beschreibt, würde zu einem Teil des Systems.

Das Problem der Anwendung von Determinismus auf menschliche Systeme liegt an der implizierten Analogie zu den Naturwissenschaften. Bei physikalischen Phänomenen herrschen kausale Gesetze. Wenn man die Gesetze kennt, kann das Phänomen grundsätzlich manipuliert werden. So kann man beispielsweise mithilfe des Wissens um die Mechanik eine Rakete bauen, die uns von der Gravitation der Erde befreit. Aber die Entscheidung, dass eine Rakete überhaupt gebaut werden soll, ist kein Teil der Mechanik. Die Rechtfertigung der Entscheidung befindet sich also in einem anderen Sprachspiel.

Im Gegensatz zu den stummen Objekten der physikalischen Welt sind Menschen rationale Wesen, die ihre Handlungen plausibel zu begründen versuchen. Wenn ein Wissenschaftler ein Experiment mit einem Menschen durchführt und er alle wissenschaftlichen Bedingungen respektiert, interagiert er doch mit der Versuchsperson bspw. in einem Gespräch, in dem er der Versuchsperson Fragen stellt und er eine Handlung oder eine Antwort von der Versuchsperson fordert. Die beiden rufen ein gemeinsames Verständnis der Sprache/des Kommunikationsmittels hervor. Dieses Verständnis ist abhängig von der Erfahrung und dem Kontext, in dem die Versuchsperson sich gerade befindet.

Menschen können ihre Handlungen im Hinblick auf eine Theorie, die diese Handlungen erklärt, rechtfertigen, aber sie können auch ihre Handlung bewusst und entgegen der Theorie ändern. Der Marxismus ist ein gutes Beispiel dafür, er versuchte das Verhalten der Menschen durch ihre wirtschaftlichen Stände (als Klassen) zu erklären. Aber der Marxismus hat eigentlich das Verhalten der Menschen durch seinen starken politischen Einfluss in bestimmte Richtungen beeinflusst. Menschen fangen unter dem Einfluss des Marxismus an, ihre soziale Welt als eine aus Klassen bestehende Welt anzuerkennen. Ganz genau hier liegt der Unterschied zwischen einer Theorie, welche physikalische Begebenheiten beschreibt und einer, welche das über den Menschen zu leisten versucht. Eine solche Theorie beschreibt nicht nur das Verhalten der Menschen, sondern beeinflusst sie in ihrem Verhalten auch.

Interventionen, die aufgrund deterministischer Gesetze eines Beschreibungssystems rechtfertigt werden, können sich nicht auch noch mithilfe desselben Beschreibungssystems begründen lassen, sondern beruhen auf Überzeugung und Dialog.

Literatur

arte (Produzent), K. Jurschick (Regisseur), Das Böse: Warum Menschen Menschen töten (Doku-Film, 2012).

P. Janich, Kein neues Menschenbild. Zur Sprache der Hirnforschung. (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2009), 173.

E. Laclau, C. Mouffe, Hegemony and Socialist Strategy, (Verso, 2001).



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Kommentar 1

W.U.Radel

Wir können die Ethik und andere humane Wissenschaften auch nach anderen als der deduktiven Logik betrachten. Das ist notwendig, um eine angemessene Verhaltens-Kybernetik bereitzustellen. Das erfordert jedoch eine andere Logik, gegen die sich die digitale Welt sträubt. Deshalb geraten die derzeitigen ethischen Modelle häufig in Sackgassen und Dilemmata. Deshalb würde ich mich freuen, wenn Sie sich vielleicht nicht so sträuben etwas Neues zu denken oder denken zu lassen.

MFG W.U.Radel

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