Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Dialog
fatum 5 | , S. 46
Inhalt

Um Gottes willen

Wie der liberale Staat mit religiösen Argumenten umgeht

Gott ist tot, proklamierte Friedrich Nietzsche schon im 19. Jahrhundert.1 Dieser Satz geht heute leichter denn je über die Lippen, da sich Bürger westlicher Industriestaaten zusehends vom religiösen Glauben distanzieren. Der sonntägliche Gottesdienst ist längst kein Muss mehr, Weihnachten feiert man nur noch wegen der schönen Stimmung und die christliche Sexualmoral gehört aus Sicht der meisten ins ideengeschichtliche Kuriositätenkabinett.

Wir sind heute dankbar für die Epoche der Aufklärung, in der Philosophen wie Kant, Voltaire oder Rousseau uns den Weg aus dem dunklen Labyrinth der christlichen Dogmen gewiesen haben. Auch Herrschaft legitimiert sich in westlichen Demokratien nur noch säkular, also ohne Rückgriff auf religiöse Glaubensüberzeugungen. Beispielsweise stützt die Bundeskanzlerin ihre Macht nicht mehr auf das Gottesgnadentum, sondern ist von der Zustimmung des Volkes abhängig. Die Bürger aber bewerten den Erfolg einer Regierung auf Basis säkularer Gerechtigkeitsprinzipien. Würden Politiker im Bundestag heute Psalmen zitieren, um einen strittigen Gesetzesentwurf zu begründen, so hätte das wohl ihr politisches Karriereende zufolge. In der heutigen Gesellschaft spielen religiöse Überzeugungen für den politischen Prozess schlichtweg keine Rolle mehr.

Umso verwunderlicher scheint es, dass sich ein bedeutender Philosoph wie Jürgen Habermas wieder mit dem Thema der Religion auseinandersetzt. Für ihn sind Religionen Quellen der Moral und Sittlichkeit, die es in einer Gesellschaft zu erhalten gilt. Aus diesem Grund will er gläubige Bürger, die ihre politischen Ansichten religiös verteidigen, in den demokratischen Willensbildungsprozess mit einbeziehen. Das will er erreichen, indem die religiösen Redebeiträge in einem kooperativen Übersetzungsprozess zwischen gläubigen und säkularen Bürgern in allgemeinverständliche Sprache übertragen werden. Es wird sich zeigen, dass mit diesem Aushandlungsprozess weder religiöse noch säkulare Bürger wirklich zufrieden sein können.

Habermas’ Interesse an Glaubenslehren entfaltet sich vor dem Hintergrund eines philosophischen Problems der liberalen (d. h. freiheitlichen) Demokratie und gewissen Beobachtungen, die er in der Gesellschaft macht. Das philosophische Problem liegt in der Natur der Staatsform und ist damit sozusagen in die DNA der liberalen Demokratie eingebaut. Sie ist nämlich, anders als autoritäre Regime, auf die freiwillige Mitarbeit ihrer Bürger angewiesen. In dem Moment, in dem der Staat seine Bürger zur Wahl verpflichtet, verliert er seine Freiheitlichkeit. Da der Staat weiterhin keine staatstreuen Einstellungen in seiner Bürgerschaft erzwingen darf, muss sich Solidarität zwischen den Menschen aus deren eigenem Antrieb entwickeln. Der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde hat dieses Dilemma schon früh wie folgt auf den Punkt gebracht:

Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Als freiheitlicher Staat kann er […] nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert.2

Das bedeutet in anderen Worten, dass die Demokratie auf dem feinstofflichen, nicht erzwingbaren Fundament staatsbürgerlicher Solidarität beruht. In Zeiten, in denen Marktmechanismen in immer mehr Lebensbereiche vordringen und ein hyperindividualistischer Zeitgeist zur Norm geworden ist, fragt Habermas nach den einenden Quellen der Gesellschaft. Im Wissen um die herausragende Rolle des Christentums für die Entstehung der westlichen Denkweise bemüht er sich in seinem philosophischen Entwurf, religiöse Bürger nicht vom politischen Prozess auszugrenzen. Das sei allein schon deshalb wichtig, weil religiöse Bürger auch Staatsbürger sind. Ein Staat, der die Religionsfreiheit garantiert, dürfe seinen Gläubigen nicht verwehren, sich im öffentlichen Diskurs religiös zu äußern. Immerhin beziehe der Gläubige seine politische Existenz aufrichtig aus seinem Glauben, könne also nicht zu einem „Umschalten“ in einen säkularen Modus gezwungen werden.3

Schwarz-Weiß Bild einer Christus-Figur an der Wand eines Zimmers.
Suveraru dreaming, © 2016: Filippo Steven Ferrara – All rights reserved

Obendrein vermutet Habermas ein sinnstiftendes Potential der Glaubensgemeinschaften für die ganze Gesellschaft, das nicht verloren gehen dürfe.*

So liegt es auch im eigenen Interesse des Verfassungsstaates, mit allen kulturellen Quellen schonend umzugehen, aus denen sich das Normbewusstsein und die Solidarität von Bürgern speisen.5

Habermas stellt die Frage, wie dieses moralische Potential erhalten und für die ganze Gesellschaft nutzbar gemacht werden kann. Er fordert dazu von Gläubigen und Nichtgläubigen, sich an einem kooperativen Übersetzungsprozess zu beteiligen, an dessen Ende allgemeinverständliche, weil säkulare, Argumente stehen.6**

Mit diesem Vorschlag ist jedoch weder die religiöse noch die säkulare Seite zufrieden. Aus religiöser Sicht ist es falsch, den Glauben für staatliche Zwecke zu instrumentalisieren. Der Religionsphilosoph Michael Reder interpretiert Habermas Vorhaben so als würden Glaubenslehren benutzt, um den säkularen Verfassungsstaat motivational zu unterfüttern. Diese Funktionalisierung der Religion, die sie auf eine Quelle der Moral reduziert, lehnt Reder ab. Dabei verweist er auf die umfassende Rolle, die die Religion im Leben der Gläubigen spielt.

Die Gestaltung kulturellen Lebens, die Verarbeitung von Kontingenz oder die Thematisierung des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz sind weitere Funktionen von Religionen – erst in der Zusammenschau ergibt sich ein detailliertes Bild ihrer gesellschaftlichen Bedeutung.7

Aus theistischer Perspektive bestehen also gewisse Erwartungen bezüglich der Wahrnehmung der Religion durch Außenstehende. Aus dem Wunsch, den Glauben in seinem Facettenreichtum erkannt zu wissen, spricht insbesondere auch die Forderung nach Anerkennung durch die Mitbürger.

Aus säkularer Sicht wehrt man sich gegen die Unterstellung, Religionen lieferten „Bedeutungspotentiale“ für die ganze Gesellschaft, also gleichermaßen für gläubige und säkulare Bürger. Ebenso wie dem religiösen Bürger zuzuschreiben ist, seine Existenz speise sich aus dem Glauben, sind ähnliche Zurechnungen auch auf säkularer Seite nötig. Der säkulare Bürger glaubt aufrichtig nicht an Gott bzw. enthält sich einer Positionierung. Spiegelbildlich zum Gläubigen lebt er mit einer umfassenden, oft naturwissenschaftlich geprägten Grundhaltung. Aus diesem Grund ergibt sich automatisch eine nüchterne Einstellung gegenüber dem Offenbarungswissen heiliger Schriften. Zwar stimmt der Atheist bzw. Agnostiker zu, dass in den heiligen Schriften der Weltreligionen Ansichten über das gute Leben und moralische Werte versammelt sind. Doch bleiben diese Inhalte für ihn Geschichten, die anderen Erzählungen in keiner Weise überlegen sind. Versteht ein säkularer Bürger diese Inhalte als überspitzte Moralisierung, ist das aus seinem Weltbild heraus legitim. Für ihn sind religiöse Lehren Verhaltenskodizes, die in der fernen Vergangenheit zur gesellschaftlichen Ordnung beitrugen. Dass diese Ordnung durch Androhung göttlicher Strafen im Dies- oder Jenseits erzwungen wurde, sieht er als Zeichen für die zivilisatorische Rückständigkeit jener Zeit an, in der es noch kein komplexes Rechtssystem gab. Aus dieser Haltung folgt, dass für ihn religiöse Bilder gegenüber säkularen Metaphern nicht automatisch überlegen sind.

Habermas spricht selbst von einem opaken Kern der religiösen Erfahrung, der sich von säkularer Vernunft nicht erschließen lässt. Säkulare Bürger seien also nicht in der Lage, zum Kern einer religiösen Lebenserfahrung vorzudringen, da diese entscheidend durch eine emotionale Verbindung mit einem höheren Sein geprägt sei. Diese Einsicht auf epistemischer Ebene begründet einen berechtigten Zweifel am Inspirationspotential, das Glaubenslehren für säkulare Bürger bereithalten.

Aufgrund der Skepsis gegenüber Habermas’ Vorschlag ist die kooperative Übersetzung als Konzept abzulehnen. Dafür sorgen insbesondere die Zugeständnisse, die an die religiösen Bürger gemacht werden. Sie dürfen ihre Redebeiträge in rein religiöser Sprache geben, so dass die Verantwortung zur Übersetzung auf Seiten der säkularen Bürger liegt. Das birgt eine große Gefahr für die bürgerliche Solidarität, die Habermas durch seinen Vorschlag eigentlich schützen möchte.

Bürgerliche Solidarität äußert sich insbesondere darin, eigene Redebeiträge für andere anschlussfähig zu halten. Wenn Gläubige mit nur ihnen bekannten Bibelstellen argumentieren, so wird kein gesellschaftlicher Diskurs über politische Herausforderungen zustande kommen. Wenn das säkulare Gegenüber das Gefühl bekommt, in einer Auseinandersetzung den ganzen diskursiven Weg zum kompromisslosen Mitbürger zurücklegen zu müssen, endet das in Frustration. Ein stures Beharren auf religiösen Dogmen ist deshalb fundamentalistisch und somit schädlich für die demokratische Gesellschaft.

Religiöse Argumente, die für andere Bürger nicht anschlussfähig sind, sind ähnlich verantwortungslos wie säkular-dogmatische Redebeiträge. Vermutet man hinter jeder politischen Entscheidung die Machenschaften der CIA, der Pharmaindustrie oder einer wie auch immer gearteten jüdischen Weltverschwörung, so tötet man den demokratischen Diskurs, bevor er begonnen hat. Aus diesem Grund ist von normativen Geboten zur kooperativen Übersetzung abzusehen. Was dem solidarischen Miteinander hilft, sind die philosophischen Grundlagen, die Habermas für die kooperative Übersetzung legt.

Habermas fordert die säkulare Seite auf, ein nachmetaphysisches Denken auszuprägen, welches die Anerkennung der religiösen Rationalität ermöglicht. Dabei bezieht er sich besonders auf die wichtige Rolle, die der christliche Glaube in der Entstehung des Liberalismus und der modernen Menschenrechte gespielt hat. Außerdem eignet sich dieses Denken eine bescheidenere epistemische Einstellung gegenüber religiösem Wissen an.

Kurzum, das nachmetaphysische Denken verhält sich zur Religion lernbereit und agnostisch zugleich. Es besteht auf der Differenz zwischen Glaubensgewissheiten und öffentlich kritisierbaren Geltungsansprüchen, enthält sich aber der rationalistischen Anmaßung, selber zu entscheiden, was in den religiösen Lehren vernünftig und was unvernünftig ist.8

Säkulare Bürger dürfen nicht dazu gezwungen werden, das Weltbild ihrer religiösen Mitbürger zu bejahen, aber das nachmetaphysische Denken Habermas’ befähigt sie dazu, es fair zu bewerten. Im Umgang mit dem Fremden sind wir als demokratische, liberale Staatsbürger genau dazu angehalten: Wir sollten uns die Zeit nehmen, dem anderen zuzuhören, wie abwegig uns seine Meinung eingangs auch vorkommt. Denn gerade in den großen Fragen der Menschheit sind wir mit unseren Mitbürgern durch unsere Menschlichkeit und den Zweifel verbunden, was der spätere Papst Joseph Ratzinger wie folgt ausdrückte:

„[E]s gibt keine Flucht aus dem Dilemma des Menschseins. Wer der Ungewißheit des Glaubens

entfliehen will, wird die Ungewißheit des Unglaubens erfahren müssen, der seinerseits doch nie endgültig gewiß sagen kann, ob nicht doch der Glaube die Wahrheit sei. […] Vielleicht könnte so gerade der Zweifel, der den einen wie den anderen vor der Verschließung im bloß Eigenen bewahrt, zum Ort der Kommunikation werden.“9

Und gerade die Kommunikation zwischen rivalisierenden Weltbildern wird in Zeiten der unversöhnlichen politischen Stimmung gebraucht wie nie zuvor.


  1. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft (München: 1959), 166f.
  2. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Entstehug des Staates als Vorgang der Säkularisation, in ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit (Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1976), 112.
  3. Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit in ders. (Hrsg.), Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze (Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2005), 133.
  4. Jürgen Habermas, Vorpolitische Grundlagen des demokratischen Rechtsstaates? in ders. (Hrsg.), Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze (Frankfurt a. M.: suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2005), 115.
  5. ibid., 116.
  6. ibid., 118.
  7. Michael Reder, Wie weit können Glaube und Vernunft unterschieden werden? in Michael Reder und Josef Schmidt (Hrsg.), Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas (Frankfurt am Main: edition suhrkamp, 2008), 55.
  8. Jürgen Habermas, Religion in der Öffentlichkeit (a.a.O.), 149.
  9. Joseph Ratzinger, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische Glaubensbekenntnis (München: Kösel, 1968), 23f.

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