Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Dialog
fatum 5 | , S. 73
Inhalt

Luhmann jeden Tag aufs Neue widerlegen

Versuch über Politikberatung, Orchester und Dirigenten

Der Innovationsdialog zwischen Bundesregierung, Wirtschaft und Wissenschaft ist ein unabhängiges Beratungsgremium der Bundesregierung zu innovationspolitischen Themen. Im Abstand von einem halben Jahr treffen sich die Bundeskanzlerin, die Bundesforschungsministerin und der Bundeswirtschaftsminister mit hochrangigen Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft und Gesellschaft zu sogenannten Dialogrunden, um über technologische Fachthemen oder auch politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen für innovative Entwicklungen zu diskutieren.

Folgt man Interpreten von Luhmanns Systemtheorie, ist eine Kommunikation über die verschiedenen Bereiche hinweg nur schwer ohne Missverständnisse denkbar, da die Akteure der einzelnen Funktionssysteme jeweils primär nur in ihren eigenen Systemlogiken agieren. Im Innovationsdialog wird dennoch genau das versucht.

Warum ist ein Dialog von Akteuren aus diesen unterschiedlichen sozialen Systemen zu innovationspolitischen Zukunftsfragen überhaupt notwendig? Innovationen sind ein Schlüssel für wirtschaftliches Wachstum und nachhaltigen Wohlstand und werden daher von der Politik gefördert. Eine Innovation mit transformativer Kraft beeinflusst aber nicht nur einen einzelnen Bereich der Wirtschaft oder der Wissenschaft, in dem sie entsteht, sondern wirkt sich auf alle Lebensbereiche aus. Mit transformativen technologischen Entwicklungen gehen stets auch soziale Veränderungen einher.

Kanzleramt der Bundesrepublik Deutschland.
Kanzleramt der Bundesrepublik Deutschland, Quelle: Dontworry, Creative Commons BY-SA 3.0

Als ein Beispiel für eine solche transformative Entwicklung kann Industrie 4.0 gelten.1 Die Verbindung von industrieller Produktion mit moderner Informations- und Kommunikationstechnik scheint zunächst ein Thema für Wirtschaft und Wissenschaft zu sein. Industrie 4.0 wird jedoch auch erhebliche Auswirkungen auf die Gestaltung sowie die Anforderungen zukünftiger Arbeitsplätze haben und ist damit auch ein Thema für gesellschaftliche Akteure wie Gewerkschaften. Darüber hinaus ist die Politik gefordert, die Rahmenbedingungen für die Veränderungen zu schaffen.

Um solche transformative Veränderungen erfolgreich zu gestalten, ist also eine disziplin- und systemübergreifende Kommunikation nötig. Die von Luhmann beschriebene Verhaftung in systemspezifische Handlungslogiken ist aber durchaus vorhanden, sodass eine Koordination der Kommunikation notwendig ist. Eine Plattform wie der Innovationsdialog ermöglicht, dass transformative Prozesse wie beispielsweise Industrie 4.0 oder die Entwicklung neuer Schlüsseltechnologien, die in einzelnen Systemen beginnen, bereits früh auch an die anderen Systeme kommuniziert werden. So konnten beispielweise Gewerkschaften Industrie 4.0 und die erwarteten Auswirkungen frühzeitig diskutieren und die damit verbundenen Veränderungen mitgestalten. Der Dialog ist also kein Selbstzweck, er führt zu Kommunikation zwischen den Systemen zu einem möglichst frühen Zeitpunkt.

Eine übertriebene Erwartungshaltung der Wissenschaft oder der Wirtschaft gegenüber der Politik ist dabei schädlich. Die Politik nimmt keine Rolle der Steuerung ein, sondern orchestriert den Prozess; sie übernimmt sozusagen die Rolle des Dirigenten. Diese Orchestrierung bedeutet oft mehr Aufwand als es bei einer hierarchischen Steuerung der Fall wäre. Damit gehen aber auch mehr Freiheiten und mehr Verantwortung für die einzelnen Akteure einher.

Um die Rolle des Dirigenten erfolgreich auszuführen, wird Wissen darüber benötigt, welche Akteure bei einem Thema relevant sind, was deren Stärken und Schwächen sind und welche Interessen sie verfolgen. An dieser Stelle kommt die Politikberatung ins Spiel. Im Falle des Innovationsdialogs sind dies u. a. die Mitarbeiter der Geschäftsstelle Innovationsdialog bei acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, die für die Vorbereitung der Dialogrunden verantwortlich sind. Auch bei der Vorbereitung ist der Dialog die zentrale Methode: Neben klassischer Recherche werden vor allem Experteninterviews geführt, um sowohl die aktuelle wissenschaftliche Diskussion als auch Meinungen und Erfahrungen wichtiger Akteure zu dem jeweiligen Thema einzufangen und daraus ein Dossier zu erstellen, das als Wissens- und Diskussionsgrundlage für die Dialogrunde dient.

Nach der abgeschlossenen Wissenssammlung besteht das nächste Ziel des Dialogs darin, Lösungen für unterschiedliche Positionen der Dialogpartner zu finden. Dazu müssen die formulierten Positionen der einzelnen Akteure reflektiert werden, um zu verstehen, durch welche Interessen diese Positionen motiviert sind. Dies ist ein Prozess, der durch den Dialog möglich ist. Kann man die Interessen ausgleichen, kann aus ursprünglich unvereinbaren Positionen möglicherweise ein Kompromiss entstehen.

Die Kommunikation ermöglicht es den Dialogpartnern darüber hinaus auch, die Handlungslogiken der anderen Systeme besser kennenzulernen, was die Prozesse langfristig vereinfacht und verbessert.

Wenn man bei neuen Themen die Logiken und Positionen der verschiedenen Akteure kennt, kann bei der politischen Gestaltung darauf Rücksicht genommen werden. So kann man bereits in der Frühphase die Entwicklung des Themas in den einzelnen Systemen beeinflussen, damit sich die Positionen nicht in widersprüchliche Richtungen entwickeln. Die Kunst der Politikberatung besteht darin, diese Prozesse und Entwicklungen frühzeitig zu erkennen und politische Gestaltung zu ermöglichen, bevor sich festgefahrene Positionen in den einzelnen Systemen geformt haben. Industrie 4.0 ist in diesem Zusammenhang ein Erfolgsbeispiel. Es wird oft von einer industriellen Revolution „mit Ansage“ gesprochen. Damit kann Widerstand der vermeintlichen Verlierer der Veränderung vermieden werden, da von vornherein darauf geachtete wird, dass es möglichst wenig Verlierer gibt. So kann die Problematik des Entstehens „digitaler Tagelöhner“ frühzeitig erkannt und die Gestaltung entsprechender Rahmenbedingungen ermöglicht werden.

Die hier beschriebene Form der Politikberatung ist eine unter vielen, die auf das möglichst frühe Erkennen langfristiger strategischer Entwicklungen und Megatrends fokussiert, um Empfehlungen für den Umgang mit diesen Veränderungen zu entwickeln. In diesem Kontext sind so viele Akteure beteiligt, dass eine Zuschreibung von Verantwortung oft nur schwer möglich ist. Dies heißt aber nicht, dass niemand Verantwortung trägt. Wie in einem Orchester trägt jeder Einzelne die Verantwortung dafür, dass das Gesamtwerk erfolgreich ist. Kluge Politik ist es, so zu orchestrieren, dass das Übernehmen von Verantwortung belohnt und nicht bestraft wird.

Die von Luhmann beschriebenen Unterschiede der verschiedenen Funktionssysteme der Gesellschaft machen die Politikberatung jeden Tag zu einer neuen Herausforderung. Politikberater bauen Brücken zwischen den Akteuren der Systeme, übersetzen in die jeweiligen Handlungslogiken und versuchen, Korridore für mögliche Kompromisse zu beschreiben. Auch wenn Luhmann damit sicherlich nicht widerlegt werden wird, so wird dennoch jeden Tag aufs Neue versucht, die Unvereinbarkeit der Systeme produktiv zu überwinden.


  1. acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften / Forschungsunion, Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 (2012)

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