Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Dialog
fatum 5 | , S. 61
Inhalt

Keine letzten Worte

Kurzgeschichte

Meise

Da, da ist etwas. Das leise knackende Geräusch der uralten Leuchtstoffröhren an der von Nikotin vergilbten Decke ist der erste Sinneseindruck, der hier seit langem erkannt wird. Ich, ich höre es. Vor Zimmer 703 der siebten Etage des Hospiz’ bewegt sich derweil nichts. ‚Monochromes Dahinschwinden in den Abguss der Existenz‘ hätte Meise wohl bei vollem Bewusstsein gedacht. Doch der Krankenzettel am Fußende seines Bettes erlaubt ihm das nicht. Er schreit stumm in harter empfindungsloser Handschrift irgendeinen Kauderwelsch, was am Ende nur eins bedeutet: ‚Pech gehabt. Du existierst zwar noch. Ein echtes Du, das ist, gibt es in diesem Bett aber schon lange nicht mehr.‘ Warte, ich, ich höre dich. Ich höre dich, verdammt noch mal. Du bist ein Knacken. Ich weiß es. Ich bin mir sicher. Äußerlich betrachtet liegt Meise da. Bleich, dürr und alt. Sehr alt. Hätte er Kinder, die ihn liebten, oder von ihm wüssten und ihn besuchten, so wären sie alte Besucher. Doch sein Zimmer ist leer. Keine alten Besucher weit und breit. In diesem Zimmer ist nur Meise und die verlebte Einrichtung. Ein Bett, ein Tisch, zwei Stühle, der Tropf, die verstaubten Plastiktulpen, die von den knackenden Leuchtstoffröhren lieblos beleuchtet werden und ein zugezogener Vorhang. Ich höre dich. Ich weiß, was du bist. Ich weiß, dass du bist. Ich muss es wissen. Neben den Tulpen steht ein Aschenbecher, ein Beutel voller zu trockenem Tabak, daneben Papierchen, keine Filter und ein Feuerzeug. Im siebten Stock des Hospiz’ ist es egal, ob man raucht oder nicht. Hier oben ist eigentlich alles egal. Keiner ist lange hier. Eigentlich sind hier alle schon gar nicht mehr da. ‚Die siebte Etage ist reserviert für die Kirsche des Sahnehäubchens des Bananensplit der besten Networking-Fuzzies unserer Gesellschaft‘ wäre noch so ein Satz, den Meise hätte sagen können. ‚Die, die niemand mehr sehen will, mit denen niemand mehr reden will, die, die sich mittlerweile selbst nur noch vergessen wollen, die kommen nach hier oben, um zu warten. Auf den Augenblick, in dem sie aufhören mit dem Existieren. Ihr Leben ist dann schon längst vergangen‘ hätte er dann weitermachen können. Doch all diese Dinge, die er jetzt, hier und heute, hätte von sich geben können, sind für ihn nicht von Bedeutung. Du bist. Es ist nicht nichts. Ich. Da muss ein Ich sein. Ein Ich das hört. Ich muss dich hören. Ich ist sich sicher, dich zu hören. Meise wurde im Laufe seines Lebens ein sehr bitterer Mensch, der von sich selbst sagt, dass er zu viele Enttäuschungen und Niederlagen erlebt habe. An guten Tagen, oder an den ganz schlechten, wusste er noch einen weiteren Satz anzufügen: ‚So etwas passiert, wenn naive Träume verfolgt und zu viele Erwartungen behalten werden.‘ Jetzt liegt er hier und hört den Deckenlampen zu.

Anna

Anna schläft. Sie liegt neben ihrer neuen, teuren Matratze auf dem Boden in ihrem neuen, teuren, leeren Raum. ‚Toll gemacht. Echt toll. Jetzt wird dir den lieben langen scheiß Tag der Rücken wehtun‘ hätten Annas erste Gedanken sein können, wenn sie nicht noch zu gerädert gewesen wäre. Der Wecker klingelt nicht. Ihr erster Weg führt an der Dusche vorbei in Richtung Balkontür. Noch vor ein paar Tagen hätte sie zuerst geduscht und sich später der Welt gestellt und gelüftet. ‚So etwas nennt man wohl Entscheidungen treffen‘ hätte sie sich selbst kommentieren können. Auf dem Rückweg zur Matratze, Bett kann man nicht sagen, nimmt sie sich den Aschenbecher und ihren Tabak mit. Sie muss grinsen. Ihr fällt auf, dass sie gerade genau das macht, was sie anderen immer vorgeworfen hat: das Bett voll krümeln. Sie raucht langsam. Der Tabak ist zu trocken. Es kratzt in ihrem Rachen. Ein anständiges Mädchen müsste jetzt husten hört sie ihre Mutter ihrem geistigen Ohr vorwerfen. Sie wundert sich ein wenig. Ganz wach kann sie bei solchen Gedanken noch nicht sein. Ohne Hustenanfall geht sie duschen. Heiliger Mist, was sind denn das für Armaturen. Immer wieder wundert sie sich über die Armaturen, während sie versucht, den Hebel und den drehbaren Knopf mit den Zahlen darauf, die aber eindeutig alles andere als die Temperatur des Wasser angeben können, zu verstehen und auch noch richtig zu bedienen. Kaum ist sie mit lauwarmen Wasser bedeckt, klingelt der Wecker. Es ist ein Radiowecker, der einfach das Radio auf voller Lautstärke aufdreht, wenn man aufstehen muss. Sie wägt ab. Weiter duschen, oder den neuen Wecker aus dem Fenster werfen. Es ist zu früh und sie ist zu gerädert für Rock’n’Roll. Der Wecker bleibt. Vorerst.

Bild eines Treppenabgangs mit Leuchtstoffröhren mit wenigen Farben, das eine trostlose Atmospähre ausstrahlt.
Fluoreszierende Lampen, Quelle: OiMax, Creative Commons 2.0

Meise

Meises erster Tag im Hospiz war vielmehr eine erste Nacht. Zumindest für ihn. ‚Es wird der Tag kommen, an dem ich einfach tot aufwache.‘ Das war die Antwort, die Meise zu geben pflegte, wenn er nach dem Tod gefragt wurde. Er kam sich dabei stets sehr gewieft vor. Über den Tod zu witzeln und zu lachen, bedeutet doch, dass man vor ihm nicht verzweifelt. Das war der Glaube, an den sich Meise dabei klammerte. Damals konnte er nur noch nicht ahnen, wie zynisch seine Antwort einmal werden würde. Die Krankenzimmertür knarzte als er sich in der dritten Nacht nach der Nachuntersuchung aus der Klinik stahl. Dahinvegetieren und zusehen, wie ich zu einem Stück Fleisch mutiere, welches nur der Ethik zuliebe am Leben erhalten wird. Nein. Meise akzeptierte die Konsequenzen seiner Diagnose nicht. Er spekulierte darauf, dass sein Aufbruch das Letzte war, was er tat. ‚Lasst uns trinken, gegen das Leben‘ hatte er sich in besagter Nacht mit großer Geste zum Wahlspruch gemacht. Er fand das gut. In den Kneipen jener Stadt gab es immerhin noch einige, die mit ihm darauf anstießen. Seine letzten Gedanken waren allerdings eher das Gegenteil einer großen Geste und wären hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben, hätte er so etwas noch gehabt. Als er aufwachte sah er eine von Nikotin vergilbte Decke mit uralten, knackenden Leuchtstoffröhren.

Anna

Verdammte Hacke ist das heißschießt es Anna durch den Kopf, als sie sich den frischen Kaffee über die Hand, anstatt in die Tasse kippt. Es ist aber nur ein leises ‚Arghpf‘ aus ihrem Mund zu hören. Schon seit einer viel zu langen Weile kommt ihr es so vor, als ob es draußen immer grau ist, der Kaffee stets daneben fließt und das Marmeladenbrot immer auf die Marmeladenseite fällt, nie aber auf die Brotseite. Jetzt verpasse ich bestimmt die Tram. Zum Frühstück schmiert sie sich zwei Pflaumenmarmeladenbrote, die aber irgendwie nur nach Brandsalbe schmecken, trinkt die restliche halbe Tasse Kaffee mit Milch, raucht eine weitere selbst gedrehte, zu trockene Zigarette dazu und ordnet, ohne zu Husten, gedanklich den anstehenden Tag und gedankenverloren die Plastiktulpen in der Vase. Früher hätte Anna nie bereits zum Frühstück geraucht. ‚Abends o.k., auf Feiern unbedingt, aber morgens? Nein. Lieber mit dem Feiern, Trinken, Rauchen usw. aufhören, als beim Treppensteigen in Atemnot zu geraten‘ könnte immer noch einer ihrer Grundsätze sein, falls es aktuell ein Ziel in Annas Leben gäbe. Gibt es aber nicht. Selbst einen richtigen Job gibt es für sie gerade nicht, jedenfalls nicht wirklich. Die erste Gelegenheit, diese Aushilfsstelle im Hospiz, ist ihrer Meinung nach eigentlich nur zur Überbrückung da. Wie vieles zurzeit. Lange werde ich da eh nicht arbeiten. Drecksladen. Am Ende ist man genauso tot wie die Bettleichen. Vergleichbares hätte sie auch über ihre Wohnung, ihr Stadtviertel und eigentlich sogar über die ganze Welt sagen können. Obwohl es erst ihr zweiter Tag im Hospiz ist, beeilt sich Anna nicht und verpasst schließlich, nicht unabsichtlich, die Straßenbahn. Menschen die aufs Sterben warten, machen sich nichts aus Pünktlichkeit. Für die Wartezeit auf die nächste Bahn, die Fahrt und die eigentlich vier Minuten Fußweg braucht Anna insgesamt eine knappe dreiviertel Stunde und fünf Zigaretten.

Meise

Mittlerweile wurde das Licht in den Zimmern der siebten Etage zentral ausgestellt, und das Knacken der Leuchtstoffröhren verstummt. Es ist wieder still. Wo bleibst du. Gerade eben warst du noch? Meises Welt ist nicht mehr. Meise ist nicht mehr. Zwei Zimmer weiter, in Zimmer 701, beginnt währenddessen die allmorgendliche Routine. Die Vorhänge werden beiseite gezogen, die Bewohner versorgt und der Schwester von der Aushilfe assistiert, so motiviert es eben geht. Inzwischen liegt Meise da. Seine Vorhänge sind zu. So wie er daliegt, könnte man fast meinen, er wartet. Er wartet, nicht wie in –auf etwas–, sondern wie –auf Godot–. Bewegungslos mit winzigen Schweißperlen auf der Stirn.

Bild von ein paar Tulpen in schwarz-weiß.
Tulpen, Quelle: cocoparisienne, Public Domain

Anna

Erika, die Schwester der sie beim Rundgang helfen soll, schickt Anna schon einmal vor, um die Infusionsbeutel der einzelnen Bewohner zu kontrollieren. Juhu… Das Wort bitte kommt in deinem Wortschatz wohl nicht vor. Kein Wunder, dass du hier das Sagen hast. Mürrisch aber widerstandslos geht Anna vor die Zimmertür und den Gang entlang. Wände so kackpastellfliederrosascheiße, oder was auch immer, so scheiße rosa wie… ach keine Ahnung. Im Zimmer hinter der ersten Tür links steht ein leeres Bett, ein Tisch, zwei Stühle, das Fenster hinter den Vorhängen ist offen. Anna läuft weiter. Es ist ihr zweiter Tag. Wäre es ihr dritter, so wäre sie wahrscheinlich nicht weitergelaufen und das Bett nicht lange unbenutzt. Aber es ist ihr zweiter Tag. An zweiten Tagen benimmt sich Anna. Warum kann sie selbst nicht sagen. Früher hat sie, immer wenn dieses Thema aufkam, gesagt: ‚Irgendwelche Regeln muss es geben. Warum also nicht auch: an geraden Primzahltagen wird sich benommen.‘ Hätte sie heute an diese Regel gedacht, wäre sie sich lächerlich vorgekommen. Verschlechtert hätte sich ihre Stimmung aber nur unwesentlich. So scheiße Rosa wie eine Zukunft hier. Anna grinst und biegt in das nächste Zimmer ab. Der Infusionsbeutel ist für sie noch voll. Beim Umdrehen fällt Annas Blick auf Plastiktulpen, auf die gleichen Plastiktulpen wie die auf ihrem Küchentisch. Sie hält kurz inne und versucht den Staub von den Blumen zu pusten. Es klappt.

Meise

Da, da ist etwas. Ich höre es. Warte, ich, ich höre dich. Ich höre dich, verdammt noch mal. Du bist ein Knacken. Nein. Du bist weicher. Ich, ich…Ein Vorhang wird gezogen, ein Stuhl wird gerückt und benutzt. Durch das gekippte Fenster kommt frische Luft herein. Blauer Dunst steigt im Zimmer auf, breitet sich aus und vermengt sich mit den hereinschwappenden Lichtstrahlen. Meise bekommt Gänsehaut. Du bist etwas anderes, ein Zischen, ein Gräuseln, ein Hauch. Ich, ich erinnere mich. Ich erkenne dich. Ich muss dich erkennen. Es muss einfach sein. Könnte der Meise von früher sich so sehen, bevor er in diesem Bett gelandet war und bevor er zu dem wurde, was in diesem Bett endet, dann würde er lächeln. Kein gehässiges Lächeln. Kein Verzweifeltes. Ein Vergessenes. Wie das der rauchenden Aushilfe neben den staubfreien Plastiktulpen.


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