Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Träume und Wahrheiten
fatum 3 | , S. 7
Inhalt

Was ist das: Träume und Wahrheiten?

Zum Traum

Träume sind bewusste Erlebnisse im Schlaf. Technischer ausgedrückt: Träume sind phänomenale Zustände; es fühlt sich irgendwie an zu träumen. Diese allererste Annäherung an eine Definition ist aber noch recht unspezifisch. Gedanken, die im Schlaf immer wieder um dasselbe Thema kreisen, und isoliert auftretende Sinnesempfindungen haben subjektiven Erlebnischarakter, sind aber, so wird meist angenommen, keine Träume im eigentlichen Sinn.

Diese zunächst unschuldig wirkende Definition war besonders in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts extrem kontrovers. Ist Schlaf nicht schon aus begrifflichen Gründen eine Form von Bewusstlosigkeit? Und könnte es nicht sein, dass man im Schlaf selbst überhaupt nichts erlebt, sondern erst im Moment des Aufwachens der Eindruck entsteht, man habe geträumt? Die Entdeckung des REM-Schlafes in den 1950er Jahren – benannt nach den charakteristischen schnellen Augenbewegungen (rapid eye movements) – hat die Rede von Träumen als bewussten Erlebnissen salonfähig gemacht. Der Schlaf ist kein einheitlicher Ruhezustand: im REM-Schlaf ist die Gehirnaktivität mitunter sogar noch höher als im Wachzustand. Werden Probanden im Schlaflabor aus dieser Schlafphase geweckt, berichten sie mit hoher Wahrscheinlichkeit, gerade geträumt zu haben. Die sogenannte REM-Schlaflähmung verhindert, dass man die im Traum erlebten Bewegungen tatsächlich ausführt. Sie erklärt auch, warum der Traumschlaf von außen einem Zustand der Bewusstlosigkeit ähneln kann. Sind Träume dann einfach bewusste Erlebnisse im REM-Schlaf? Nicht ganz: Weckungen aus dem REM-Schlaf führen nicht immer zu Traumberichten, und Träume werden auch gelegentlich nach Weckungen aus anderen Schlafphasen berichtet.

Dieser kurze Exkurs in die Traumforschung verdeutlicht, dass in unserer Definition ein entscheidender Aspekt fehlt: Träume sind, sofern sie Gegenstand der wissenschaftlichen Forschung sein sollen, berichtbare Erlebnisse im Schlaf. Das ist damit verträglich, dass die meisten Träume tatsächlich vergessen werden. Schlaflaborstudien zeigen, dass die spontane Traumerinnerung ein schlechter Indikator für die tatsächliche Traumhäufigkeit ist. Träume sind berichtbare Erlebnisse weil man sich unter bestimmten Bedingungen, etwa nach einer Weckung im Schlaflabor, an sie erinnern und sie dann auch berichten kann. Vielleicht gibt es im Schlaf auch Erlebnisse, die sich aus prinzipiellen Gründen der Erinnerung und somit auch der Berichtbarkeit entziehen. Diese wären dann aber auch keine Träume in dem Sinn, in dem sich die wissenschaftliche Traumforschung mit ihnen beschäftigt.

Durch die Konzentration auf berichtbare Träume können die Ergebnisse der wissenschaftlichen Traumforschung genutzt werden, um den Traumbegriff schrittweise mit Inhalt zu füllen. Viele, aber eben nicht alle Träume sind visuell, emotional, usw. Meist stolpert man recht ahnungslos und unkritisch durch die Traumwelt – aber in luziden Träumen merkt man, dass man träumt und kann den Traum oft sogar kontrollieren. Gibt es trotzdem so etwas wie einen kleinsten gemeinsamen Nenner, der verschiedenen Arten von Träumen zugrunde liegt? Ausgangspunkt ist die in der Philosophiegeschichte übliche Beschreibung des Traums als Erleben eines Traumselbst in einer Traumwelt. Wir können nun aber genauer werden: Auch dann, wenn sich das Erleben im Traum radikal vom Wachzustand unterscheidet – wenn man sich nicht mehr als denkendes und nicht einmal mehr als körperliches Selbst erlebt – gibt es im Traum ein erlebtes Hier und ein erlebtes Jetzt. Es gibt das Gefühl der Gegenwart in einem raumzeitlichen Bezugsrahmen; und das Zentrum dieses Bezugsrahmens, der sogenannten Traumwelt, ist das, was später im Traumbericht als Selbst beschrieben wird. Wenn das stimmt, haben wir nun eine empirisch informierte Theorie darüber, was Träume sind; und gleichzeitig können wir den Vergleich zwischen Traum- und Wachbewusstsein nutzen, um genauer zu verstehen, unter welchen Bedingungen wir uns als Selbst in einer Welt erleben. Träume sind daher unter anderem auch eine Kontrastbedingung für die interdisziplinäre Bewusstseinsforschung und für philosophische Theorien des Selbstbewusstseins. Sie verraten uns etwas über die Struktur des bewussten Erlebens.


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