Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Träume und Wahrheiten
fatum 3 | , S. 43
Inhalt

Inspiration für Ideen

Träume als Impuls für Fortschritt in Wissenschaft und Philosophie

Woher kommen plötzliche Ideen? Spontane Impulse, die zu Lösungen von Fragestellungen führen können, tragen dazu bei, Neues zu kreieren. Vorausgehende intensive Beschäftigung mit einer Thematik kann erforderlich sein bis die zündende Idee erscheint: was bedeuten kann, dass eine weitere intensive Arbeitsphase folgt, um den inspirativen Gedanken zu formalisieren. One phenomenon is certain and I can vouch for its absolute certainty: the sudden and immediate appearance of a solution at the very moment of sudden awakening.1

Von welcher Natur ist dieses Erwachen, von dem der französische Mathematiker und Philosoph Jacques Hadamard spricht? Welchen Impuls können Träume für den Fortschritt und den Erkenntnisgewinn liefern? Diese Fragestellung eröffnet eine andersartige Sichtweise auf die Triade Traum, Wissenschaft und Philosophie, denn klassischerweise fungiert der Traum im Zusammenhang mit Wissenschaft und Philosophie als das zu Erforschende. In dieser Verbindung schwingt eine gewisse Spannung mit, denn Träume charakterisieren sich durch ihre Individualität und Subjektivität, während Wissenschaft einen objektiven Anspruch erhebt. Seit langem forschen WissenschaftlerInnen mit modernsten Messgeräten daran, Einsicht und Erkenntnis in das Mysterium Traum zu bringen. Aus anderer Perspektive stellt sich die Frage: Inwiefern können Träume einen Beitrag zu Wissenschaft und Philosophie leisten, nicht als das zu Erforschende, sondern als eine Art von Quelle?

Der Traum umfasst mehr als den schlafenden Zustand, der die Menschen in ferne Welten führt, denn die meisten Personen verbringen zwischen 30 % und 47 % des Wachseins mit Tagträumen und gedanklichen Abschweifungen.2 Werden die Ausprägungen des Träumens subsummiert, stellt der Traum eine Möglichkeit der Visualisierung dar. Am Tage kreierte virtuelle Welten werden häufig als Träumereien abgetan und stellen dennoch, ebenso wie Träume im Schlaf, Formen der Visualisierung dar. Diese sind für die Lösung von Aufgabenstellungen hilfreich und Studien belegen, dass vor allem Fragestellungen visueller Natur am erfolgreichsten über Träume gelöst werden.3 Kann der Transfer von Forschungsfragestellungen in die Bildersprache des Traums die Wissenschaft fördern? Beispielsweise bei der Formulierung neuer Hypothesen in den Naturwissenschaften ist Kreativität ebenso erforderlich wie bei der Konstruktion, dem Kreieren von Artefakten in den Technikwissenschaften.4

Traumbilder können sowohl durch bewusste Imagination als auch unbewusst in bestimmten Situationen essentiell für neue Entwicklungen und Durchbrüche sein. Das wohl bekannteste Beispiel ist Auguste Kékulé, der von einem traditionsreichen Symbol, der Schlange, die sich in den Schwanz beißt, träumte. Mit diesem Traum erkannte Kékulé die ringförmige Struktur des Benzolmoleküls. Angeblich hat Kékulé erst Jahre später von seinem Traum berichtet.5 Hier wird das Charakteristikum der Subjektivität deutlich: Träume können als individuelle Ideengeber fungieren, sind für Mitmenschen jedoch nicht prüfbar. Die Idee für die Anordnung des Periodensystems soll Mendeleev ebenso in einem Traum erschienen sein. Bohr imaginierte Atome, Einstein träumte Anregungen zu seiner Relativitätstheorie und Otto Loewi träumte das Experiment in den Neurowissenschaften,* das ihm später den Nobelpreis einbrachte.6 Die Inspiration und Einsichten in Descartes’ sogenannten drei olympischen Träumen manifestierten sich später in seinem Werk Discours de la Méthode.7 Hadamard spricht in seinem Werk The Psychology of Invention in the Mathematical Field vom mathematical dream, also dem seltenen direkten Träumen der Lösung einer Aufgabenstellung.8

Offenbar treten Geistesblitze tagsüber meist während Abschweifungen oder Tagträumen auf. Poincaré berichtet von Ideen, die ihm kamen, als er gerade mit etwas völlig anderem beschäftigt war.9 Geistesblitze, spontane Eingebungen als instantanes Erscheinen der Lösung, lassen sich also in Verbindung mit Träumen bringen. Die Natur des Geistesblitzes ist ähnlich wie die des Traums eine höchst subjektive. Während des Tagträumens und Abschweifens ist im Gehirn das Default Mode Network (DMN) aktiv. In Ruhephasen ist dies besonders angeregt und begünstigt das Träumen. Viele Zentren des DMN sind ebenso während der REM-Phasen hochaktiv.10 Diese aktuellen Forschungsergebnisse zeigen, dass Tagträume und spontane Ideen Ähnlichkeiten mit den nächtlichen Träumen und plötzlichen Erkenntnissen aufweisen. Bei spontanen Gedanken sind neben dem DMN weitere Gehirnareale aktiv.11

Moderne Messgeräte (PET: Positron Emission Tomography) zeigen, dass Teile des Cortex, die mit visueller Imagination und Bewegungswahrnehmung verknüpft werden, sowie Gehirnregionen, welche mit Emotionen assoziiert sind, aktiviert werden. Der dorsolaterale praefrontale Cortex ist weniger aktiviert. Dieser ist für die Evaluierung zuständig, was logisch und sozial angebracht ist. Träume sprechen mit Bildern zum Menschen. Auch beim Tagträumen läuft eine Bilderserie vor unserem inneren Auge ab. Aus obigen Observationen folgen genau die Eigenschaften, die Träume aufweisen: visually rich and logically loose.12 Aufgrund dieser Entdeckung wurden Theorien gestärkt, dass es sich beim Träumen womöglich um ein Epiphänomen** handelt. Träume sprechen eine individuelle und bildhafte Sprache, die aufgrund ihrer indirekten Art Interpretationsspielraum lässt. Der Traum entwickelt seine eigene Sprache wie ein Rätsel oder mehr wie ein Schatz des Seienden, wie die französische Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle dies bezeichnet. Dadurch, dass die visuellen Zentren des Gehirns aktiver sind, steigt die Fähigkeit Lösungen zu visualisieren. Zugang zu den individuellen Traumbildern bekommen andere über Erzählungen. Bei der Visualisierung wird auf subjektive Erfahrungen und innere Bilder zurückgegriffen.

Der Traum, der auf einer visuellen Bildebene stattfindet, ruft zu einer Transformation auf.13 Träume stellen eine Kombination aus Erfahrungen, welche die betreffende Person gespeichert hat, und aktuellen Erlebnissen dar. In einer Art Transformationsprozess können die kreierten Bilder verwandelt werden. Der Moment der Idee ist ein Erwachen, durch das eine Veränderung ins Leben gerufen wird. Mittels Erinnerung und Imagination kann die Person nach dem Aufwachen bzw. dem Erwachen die erschaffene Kreation noch einmal erleben. Dabei können Vorkommnisse hinzugedichtet und ebenso weggelassen werden.14 Diese Übergangszustände eröffnen das Potenzial für Anregungen zur Lösung von Fragestellungen, da sich das scheinbare Chaos im Traum mit dem bewussten Reflektieren verbindet. Die Idee kann sowohl im Traum direkt aufkommen als auch in der Erinnerung des Wachbewusstseins an den Traum. In beiden Situationen gibt der Traum jedoch den Impuls für das Finden der Lösung – sei es direkt oder indirekt. Beispiele, in denen Fragestellungen direkt geträumt werden, sind vor allem mit zunehmender Komplexität der wissenschaftlichen Herausforderung rar. Vielmehr liefert der Traum mit seiner bildhaften Sprache eine Quelle für indirekte Information durch Inspiration (lateinisch inspiratio: Einhauchen).

Träume sind geprägt von einer gewissen Unvorhersehbarkeit. Inspiration ist frei von Zeit, denn ihr Erscheinen ist zeitlich nicht definierbar und fixierbar. Diese universelle Nicht-Zeitlichkeit macht es zur Herausforderung, Träume für die Wissenschaft systematisch zu nutzen. Zeit kann im Traum indirekt angedeutet werden: durch Zahlen, Symbole oder Orte. Gleichzeitig spielt der Traum mit der Zeit. Der Traum ist eine einzigartige Form von Präsenz. Erinnerungen an Gedanken, Emotionen und Eindrücke aus der Vergangenheit werden mit Ereignissen aus dem gegenwärtigen Leben zu einer Neuschöpfung, einer brillanten Komposition, welche Träumende ihre Vergangenheit partiell und neu arrangiert im Präsens wieder erleben lässt, kombiniert. Dufourmantelle drückt das in ihrem Werk Intelligence du rêve folgendermaßen aus: Le temps est comme le sang du rêve.15 Sie sieht die Zeit also, bildlich gesprochen, als Blut des Traums. Träume sind Genies in der Detailliertheit: alles scheint gleichsam wichtig. Sie sind frei von Urteil, Wertung und Ordnung: Es gibt kein Innen und kein Außen. Die Funktionsweise eines Traums kann, laut Dufourmantelle, als ein Möbiusband*** gesehen werden: Das Innere und das Äußere sind verbunden. Mit den freien Assoziationen ignoriert das Traumgeschehen die geforderte wissenschaftliche Widerspruchsfreiheit. Aus Kombinationen von Zeichen, Buchstaben und Bildern können Reibungen entstehen, die in ihrer Entladung harmonisch werden. Die Freiheit in der Komposition lässt die Kreativität aufkeimen: eine subjektiv-schöpferische Kraft, die mit dem Genie-Gedanken und der Irrationalität in Verbindung gebracht werden kann.16

Abbildung eines Möbiusbandes aus dem Traum eines künstlichen neuronalen Netzwerks.
Abbildung eines Möbiusbandes aus dem Traum eines künstlichen neuronalen Netzwerks. Foto: Martina Maria Gschwendtner; Details im Google Research Blog.

Der belgische Mathematiker und Philosoph Luc de Brabandère definiert Kreativität als die Fähigkeit eines Individuums, seine Wahrnehmung zu verändern.17 Dies wiederum ist ein Kennzeichen des Träumens, wenn das Default Mode Network aktiviert ist. Kreativität hat ihren etymologischen Ursprung im lateinischen Wort creare, was so viel bedeutet wie (er)schaffen. Das Träumen ist verbunden mit einer hohen Schöpferkraft, denn Träumende erschaffen sich ihre eigenen Traumwelten. Ein weiterer Zusammenhang lässt sich mit dem Wort crescere erstellen: entstehen und (er)wachsen. Als individuelle Kombination von gespeicherten Erinnerungen und Erlebnissen des Tages entstehen Träume bereits mittels Kreativität. Im Kreieren des Traums an sich steckt also bereits viel schöpferisches Potenzial. Innovation und Fortschritt wachsen aus solchen Verbindungen und damit fungiert Kreativität als deren Grundlage. Lange Zeit wurde Kreativität in der Wissenschaft und Philosophie als irrational abgelehnt und war negativ konnotiert: mit dem Chaotischen, Zufälligen, welches sich gegen das logisch strukturierte Vorgehen und das rationale Denken der Wissenschaft und der Philosophie zu stellen schien. Es handelt sich ähnlich wie beim Traum um Nicht-Greifbares und Facettenreiches, denn für das Traumgeschehen scheint es keine Regeln zu geben. Kreativität taucht in der Wissenschaft immer wieder auf. Sie spielt beispielsweise beim Aufstellen wissenschaftlicher Hypothesen eine Rolle. Popper hat in seinem hypothetisch deduktiven Modell der Falsifikation wissenschaftlicher Thesen, die Frage nach dem Ursprung von Hypothesen als irrelevant für das Modell erklärt. Eine solche Frage bzw. die Entdeckung sieht Popper in der empirischen Psychologie. Für Poppers Fragestellung mag diese Betrachtung durchaus als irrelevant deklariert werden können, dennoch ist sie fundamental, um sein Modell überhaupt anwenden zu können. Hier eröffnet sich ein Raum für die irrationale Kraft des Träumens als möglicher Ausgangspunkt für die Anwendbarkeit wissenschaftstheoretischer Modelle. Popper selbst sah jahrelang das Abgrenzungsproblem und das Induktionsproblem als zwei parallele Fragestellungen bis ihm ein Geistesblitz kam und er die beiden Sachverhalte aufeinander bezog.

Wissenschaftlich gesehen ist mittlerweile eine Korrelation zwischen Tagträumen und Kreativität erwiesen, insofern, als Abschweifungen und nicht mit der Fragestellung verwandte Gedanken das Problemlösen fördern.18 Somit kann das Träumen das kreative Lösen von Aufgaben unterstützen. Träume haben ebenso wie Kreativtechniken das Potenzial, als schöpferisches Element essentiell für das Vorantreiben der Wissenschaft zu sein.

Neben einer Quelle der Inspiration und Kreativität ist der Traum somit ein Impulsgeber für Ideen in Wissenschaft und Philosophie. Inspiration – und damit schließt sich der Kreis – ist fließend verbunden mit der Idee: Von der Wortbedeutung ausgehend, stellt Inspiration das Einhauchen der Idee dar. Jede große Erfindung entsteht im Kopf als Idee oder als Vision. Wenn Menschen neue Ideen entwickeln, lassen sich alpha-Wellen im praefrontalen Cortex messen, die ein typisches Zeichen für diffuse Aufmerksamkeit und Entspannung sind. Kreativität auf dem Weg zu Ideen profitiert von einer geringen kognitiven Kontrolle, das heißt einer Befreiung von Normen und Verhaltensmustern bzw. Vorgaben.19 Ideen sind wie Träume subjektiv und personenbezogen und erst Berichte zeugen von der Möglichkeit der Ideengenerierung im Traum: In Bennetts Artikel Answers in your dreams nennt er das Beispiel von Don Newman und dem späteren Nobelpreisträger John Nash. Newman hatte ein Problem, an dem er seit langer Zeit saß. Eines Nachts träumte er von Nash; dieser erklärte ihm das Problem und somit hatte er die Lösung. Newman fügte seiner Arbeit nach der Veröffentlichung eine Fußnote hinzu, in der er Nash dankte, als hätte er es ihm wirklich erklärt.

Aus Träumen können durch kreative Inspiration Visionen wachsen, die über Ideen zu Handlungen werden. Träume urteilen nicht, sie sind und zeigen in Bildern. Es liegt am Menschen, dies wahrzunehmen und ihnen Aufmerksamkeit zu schenken.20 Träume begleiten den Menschen von einem sehr frühen Zeitpunkt an: Neueste Forschungen gehen davon aus, dass Föten bereits im Mutterleib träumen.21 Führen Sie sich vor Augen, wie viel Zeit Ihres Lebens Sie träumen. Sie verfügen damit über eine einzigartige Fähigkeit der Visualisierung und Imagination, die über kreative Inspiration zu Ideen und Visionen führt, welche Wissenschaft und Philosophie wachsen lassen. Dieses Wachstum impliziert neben dem Träumen eine weitere wichtige Komponente: Träume zu leben!


  1. Jacques Hadamard, An Essay on the Psychology of Invention in the Mathematical Field (New York: Dover Publications, 1954), 8.
  2. Josie Glausiusz, Living in an Imaginary World Scientific American Mind 23, no. 1 (2013): 70–7, 72.
  3. Deirdre Barrett, An Evolutionary Theory of Dreams and Problem-Solving, in: Deirdre Barrett und Patrick McNamara (Hrsg.), The New Science of Dreaming (Westport: Praeger Publishers, 2007), 141.
  4. Hans Poser, Wissenschaftstheorie: Eine philosophische Einführung (Stuttgart: Philipp Reclam jun., 2001), 316–317.
  5. Michael Schredl, Experimentell-Psychologische Traumforschung, in: Michael H. Wiegand et al. (Hrsg.), Schlaf und Traum: Neurobiologie, Psychologie, Therapie (Stuttgart: Schattauer, 2006), 59.
  6. Deirdre Barrett, Answers in Your Dreams Scientific American Mind 22, no. 5 (2011): 27–33, 28.
  7. Manfred Geier, Geistesblitze: Eine andere Geschichte der Philosophie (Reinbek : Rowohlt, 2013), 28.
  8. Jacques Hadamard, 7–8.
  9. Ibid, 13.
  10. George W. Domhoff, Kieran C. R. Fox, Dreaming and the Default Network: A Review, Synthesis, and Counterintuitive Research Proposal Consciousness and Cognition 33 (2015): 342–53, 343.
  11. Kieran C. R. Fox et al., The wandering brain: Meta-analysis of functional neuroimaging studies of mind-wandering and related spontaneous thought processes NeuroImage 111 (2015): 611–21, 619.
  12. Deirdre Barrett, Answers in Your Dreams, 29–30.
  13. Anne Dufourmantelle, Intelligence du rêve: Fantasmes, apparitions, inspiration (Paris: Éditions Payot & Rivages, 2012), 13.
  14. Henri Bergson, Le Rêve, in: L’énergie spirituelle: Essais et conférences (Paris, 1919), 53–54.
  15. Anne Dufourmantelle, 12–16.
  16. Karl-Heinz Brodbeck, Zur Philosophie der Kreativität: Historische und interdisziplinäre Aspekte, in: Johannes F. M. Schick und Robert H. Ziegler, Residenzvorlesungen (Würzburg, 2012), 13.
  17. Luc de Brabandère, The Forgotten Half of Change: Achieving Greater Creativity through Changes in Perception (Chicago: Dearborn Trade Publishing, 2005), 10.
  18. Benjamin Baird et al., Inspired by Distraction: Mind Wandering Facilitates Creative Incubation Psychological Science (2012), 4.
  19. Evangelia G. Chrysikou, Your Creative Brain at Work Scientific American Mind 23, no. 3 (2012): 24–31, 27.
  20. Anne Dufourmantelle, 32.
  21. Paul Li, Askthebrains: When do human beings start to dream? Scientific American Mind 22, no. 1 (2011): 70.

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