Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Träume und Wahrheiten
fatum 3 | , S. 56
Inhalt

Wahrheit im Strafprozess

Der Fall Calas

Mitten in Toulouse im Süden Frankreichs, heute bekannt als Universitätsstadt und für die Montage von Flugzeugen, wurde 1762 ein Mann für die Dauer von zwei Stunden gerädert, dann erwürgt und schließlich verbrannt. An sich kein hervorhebenswerter Vorfall. Die Todesstrafe durch öffentliches Erhängen, Köpfen, Vierteilen oder Rädern war üblich im Frankreich des 18. Jahrhunderts. Doch Jean Calas, der wegen Mordes an seinem Sohn Marc-Antoine hingerichtet wurde, war unschuldig. Voltaire machte den Justizskandal durch sein Engagement berühmt, insbesondere durch den Traité sur la Tolérance von 1763, in dem er für die Toleranz zwischen den Religionen eintrat. Denn die Familie Calas gehörte der verfolgten hugenottischen Minderheit an.

Nach heutiger, einhelliger Meinung erhängte sich Marc-Antoine Calas am 13. Oktober 1761 selbst. Die Familie entdeckte am gleichen Abend den Leichnam, rief Arzt und Polizei herbei und schnell versammelte sich eine Menschenmenge vor dem Haus der Calas. Im stark katholisch dominierten Toulouse drohte dem Toten ein sogenannter procès au cadavre, denn Selbstmord war eine staatlich sanktionierte religiöse Straftat. Beim procès au cadavre wurde der Leichnam durch die Straßen geschleift und auf dem zentralen Platz an den Füßen aufgehängt. Um seinem Sohn diese Schande zu ersparen, schwieg Jean Calas zunächst über den Selbstmord. Es verbreitete sich das Gerücht, die hugenottische Familie Calas hätte Marc-Antoine umgebracht, weil dieser zum Katholizismus konvertieren wollte.

Die Hugenotten waren die diskriminierte, protestantische Minderheit in Frankreich. Die Bevölkerung von Toulouse war ihnen besonders feindselig gesonnen. Jedes Jahr wurde die Tötung von 4000 Hugenotten im Jahre 1562 festlich begangen. Die Stimmung in Toulouse war Ende 1761 besonders aufgeheizt, weil für 1762 das 200-jährige Jubiläum anstand.

In diesem Milieu verdichtete sich das Gerücht von Marc-Antoine Calas’ Ermordung zur Wahrheit, noch bevor der Prozess begann. Am 8. November 1761 wurde das vermeintliche Opfer eines hugenottischen Komplotts unter großer Anteilnahme der Bevölkerung mit einem pompösen, katholischen Begräbnis geehrt. Jean Calas wurde kurz darauf zum Tod verurteilt. Das Parlement von Toulouse bestätigte die Entscheidung in zweiter Instanz und Jean Calas wurde am 10. März 1762 gerädert.

Wieso haben die Richter versagt und nicht erkannt, dass der 68-jährige Jean Calas unmöglich seinen körperlich deutlich überlegenen Sohn umgebracht haben konnte, wie Voltaire später ausführte? Wieso zählte die Wahrheit nicht? Der Strafprozess hatte einen strengen rechtlichen Rahmen, festgelegt in der Ordonnance criminelle von 1670. Es gab starre Beweisregeln, nach denen der volle Beweis nur im Falle eines Geständnisses des Angeklagten erbracht war. Ohne Geständnis konnte die Todesstrafe nicht ausgesprochen werden. Und nur falls das Geständnis fehlte, wandte man die Folter an, die sogenannte question, um den Beweis zu vervollständigen. Man kannte durchaus die Schwächen der unter Schmerzen abverlangten Aussagen. Deshalb musste der Angeklagte ein unter Folter abgegebenes Geständnis danach mit seiner Unterschrift bestätigen. Die gesamte Prozedur war äußerst rational und das war nicht unbedingt ihre Stärke. Jean Calas wurde also gefoltert, doch er gestand nicht, weder unter der question ordinaire, noch unter der intensiveren question extraordinaire. Durch den Druck der öffentlichen Meinung wurde er dennoch mit acht zu fünf Richterstimmen zum Tod verurteilt. Gesetzeswidrig, indem die Richter die Gerüchte und Zeugenaussagen in Form von Viertel- und Achtelbeweisen zu einem vollen Beweis zusammenzählten, wie Voltaire ihnen später vorwarf.

Pierre Calas, ein Bruder von Marc-Antoine, erzählte Voltaire im Genfer Exil vom Schicksal seiner Familie. Dieser war zunächst von der Schuld Jean Calas’ ausgegangen, die Erzählungen aus erster Hand überzeugten ihn jedoch bald vom Gegenteil. Entsetzt über das Unrecht führte er eine Kampagne zur Rehabilitation der Familie Calas. Sie war von Erfolg gekrönt: Ein königliches Gericht sprach alle Familienmitglieder frei und sie wurden für das erlittene Unrecht entschädigt.

Hätte im heutigen Strafverfahren die Wahrheit zugunsten von Jean Calas gesiegt? Damals wie heute ist die Wahrheitsfindung im Strafprozess nicht den Streitparteien überlassen, sondern Aufgabe des Gerichts. Der Ermittlungsgrundsatz findet sich heute in § 244 Abs. 2 der Strafprozessordnung (StPO): Das Gericht hat zur Erforschung der Wahrheit die Beweisaufnahme von Amts wegen auf alle Tatsachen und Beweismittel zu erstrecken, die für die Entscheidung von Bedeutung sind. Zulässige Beweismittel sind Zeugen, Sachverständigengutachten, Urkunden und der Augenschein. Welchen Beweis die Richter für wie überzeugend halten, unterliegt der freien richterlichen Beweiswürdigung. Das Gericht entscheidet über das Ergebnis der Beweisaufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriff der Verhandlung geschöpften Überzeugung, § 261 StPO. Im Rahmen der freien Beweiswürdigung berücksichtigen die Richter auch die Einlassung des Angeklagten. Starre Beweisregeln wie unter der Ordonnance criminelle von 1670 gibt es nicht. Ein Geständnis ist also nach geltendem Strafprozessrecht für eine Verurteilung nicht notwendig. Doch das Geständnis spielt nach wie vor eine große Rolle.

Gibt der Angeklagte etwa im ersten Polizeiverhör ein Geständnis ab oder belastet sich anderweitig selbst, fällt es ihm in der Regel sehr schwer, den Richter in der späteren Hauptverhandlung von etwas anderem zu überzeugen. Jean Calas gab zunächst an, sein Sohn sei tot gefunden worden, ermordet von einem Unbekannten. Für die Strafverfolger, die teilweise auch seine Richter waren, wurde er durch diese Lüge in Kombination mit den Gerüchten höchst verdächtig. Es rettete ihn nicht, dass er zwei Tage nach dem ersten Verhör unter Folter wahrheitsgemäß aussagte, man habe seinen Sohn erhängt an der Tür gefunden.

Eine zentrale Bedeutung hat das Geständnis im heutigen Strafverfahren beim sogenannten Deal. Dabei wird die Wahrheitsfindung durch ein erzwungenes Geständnis ersetzt. Freilich nicht durch körperliche Folter erzwungen; dem Angeklagten wird vielmehr für seine Kooperation eine bestimmte (Höchst-)Strafe zugesichert bzw. eine mildere Sprache zugesprochen als wenn er den Handel ausschlüge. Dass ein solches Geständnis mit der Wahrheit recht wenig gemein haben muss, verwirrt Neueingeweihte bisweilen, ist aber gängige Praxis.

Was sich seit Calas nicht geändert hat, ist die öffentliche Verurteilung von Angeklagten, bevor der Prozess überhaupt begonnen hat, geschweige denn ein richterliches Urteil gefällt wurde. Jörg Kachelmann bekam im September 2015 eine Geldentschädigung in Rekordhöhe von 635.000 Euro zugesprochen, weil der Springer-Konzern mit seiner vorverurteilenden Berichterstattung seine Persönlichkeitsrechte mehrfach schwerwiegend verletzt hatte.* Die Reputation Jörg Kachelmanns wurde durch die Anschuldigungen zerstört. Der richterliche Freispruch von den Vorwürfen konnte sein Ansehen nicht wiederherstellen. Im Gegensatz zum Fall Calas ließ sich das Gericht nicht durch den starken öffentlichen Druck zu einer Verurteilung hinreißen. Doch die Anzahl der großen Justizskandale ist nicht gering, wie jüngst der Fall Mollath zeigte. Das wirft die Vermutung auf, nicht das jeweils geltende Strafprozessrecht sei schuld an der Bestrafung Unschuldiger, sondern die menschliche Natur.



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