Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Synthese
fatum 6 | , S. 53
Inhalt

Synthese des Lebens

Die Lebens- und Naturwissenschaften – wie Medizin, Biologie, Geologie, Chemie und Physik – sind heute ein wichtiges Standbein unserer modernen Welt. Unsere lange Lebenserwartung, die globale Mobilität von Waren und Wissen, unser gesamter, mittlerweile als selbstverständlich empfundener Lebensstandard wurde erst durch das Verständnis der Naturwissenschaften ermöglicht. Durch die empirische Methode, also das Wechselspiel von theoretischem Modell und experimentellem Nachweis, konnten wir immer fundamentalere Fragestellungen beantworten.

Trotz der Explosion von Wissen und dessen Anwendung ist es uns jedoch bis heute nicht gelungen, die Antworten auf zwei zentrale Fragen zu finden: Was ist Leben? Wie konnte Leben entstehen? Erstere Frage könnte man vorschnell aus der eigenen Erfahrung beantworten: Ich erkenne Leben, wenn ich es sehe. Im Angesicht der schier unermesslichen Komplexität und Vielfalt des Lebens auf der Erde wird jedoch schnell klar, dass diese Antwort nicht ausreicht. Die NASA beispielsweise ist besonders an einer formaleren Definition interessiert, da sie auch extraterrestrische Anzeichen von Leben erkennen möchte. Sie verwendet als derzeitige Arbeitsdefinition einen Vorschlag von Gerald Joyce aus den 90er Jahren: Leben ist ein sich selbsterhaltendes, chemisches System, welches sich durch Vervielfältigung, Veränderung und Selektion an seine Umwelt anpasst1 (Darwin’sche Evolution). Joyce selbst wies auf die Probleme dieser Definition hin – beispielsweise ist nichts wirklich selbsterhaltend, weshalb alles externe Energie- und Massezufuhr benötigt. Auch erlaubt sie es nicht, eine messbare Größe abzuleiten, die beziffert „wie sehr“ etwas lebt. Jedoch gibt sie uns einen ersten Startpunkt, von dem aus wir die zweite Frage nach der ultimativen Synthese, der Entstehung des Lebens, angehen können.

Das Schlüsselprinzip hierbei ist der von Charles Darwin gefundene Prozess der Evolution. Alle Lebensformen stammen von gemeinsamen Vorfahren ab, mit denen sie bestimmte Eigenschaften teilen. Unterschiede ergeben sich hierbei durch zufällige Veränderungen über die Generationen hinweg, welche auch eine Anpassung an neue oder sich ändernde Umwelteinflüsse ermöglichen. Durch diese Regel konnte die Biologie die Charakteristika verschiedener Lebensformen vergleichen und damit einen speziesübergreifenden Stammbaum des Lebens konstruieren. Geht man noch mehr ins Detail und betrachtet die biochemischen Vorgänge im Inneren von Zellen, findet man ein erstaunliches Reaktionsnetzwerk, das für alle Lebensformen auf der Erde essentiell ist: das sogenannte zentrale Dogma der Molekularbiologie. Es bringt die drei wichtigen Biopolymere DNS, RNS und Proteine miteinander in Beziehung und erklärt ihre Bedeutung: Die DNS (Desoxyribonukleinsäure) enthält die Baupläne, aus denen nach einer Zwischenübersetzung in die chemisch verwandte RNS (Ribonukleinsäure) die Proteine als Nanomaschinen der Zelle erstellt werden. Diese wiederum sind einerseits für die Vervielfältigung der DNS verantwortlich und agieren andererseits gleichzeitig mit RNS als die Fabriken in denen Proteine aus Aminosäuren zusammengesetzt werden.

Der im zentralen Dogma beschriebene Ablauf ist mit einem Alter von etwa 3,5 Milliarden Jahren einer der ältesten biologischen Prozesse, der durch die Top-Down-Deduktion aus dem heute existierenden Leben gefunden werden konnte. Er könnte als Startpunkt der biologischen Evolution bezeichnet werden. Damit ist er ein Zielpunkt für die Origin-of-life-Forschung, die untersucht, wie sich vor mehr als 4 Milliarden Jahren aus unbelebter Materie die ersten Reaktionsnetzwerke aus organischen Chemikalien bilden konnten, die schließlich zum zentralen Dogma führten (Bottomup). Hierbei ergeben sich eine ganze Reihe von weiteren Problemen. Eines ist beispielsweise die Frage, ob der Ursprung des Lebens überhaupt wissenschaftlich ergründet werden kann. Kritiker argumentieren hier, dass die Entstehung des Lebens eine zufällige Aneinanderreihung komplexer Randbedingungen war und es deshalb unmöglich ist den genauen Ablauf nachzuvollziehen. Auch gibt es kaum Möglichkeiten zu beweisen, dass die Vorgänge auf eine bestimmte Art und Weise abgelaufen sind; es gibt aus dieser Zeit nur wenig konservierte Proben, durch die sich der Zustand der frühen Erde eindeutig beschreiben ließe.

Computergeneriertes Bild einer hydrothermalen Pore
Hydrothermale Pore, © Christoph Hohmann, NanoInitiativeMunich

Angesichts der vermutlich rauen Anfangsbedingungen, bestimmt von extremen Temperaturen oder ständiger Störung durch Meteoriteneinschläge, erscheint es jedoch plausibler, dass die ersten zu Leben führenden Prozesse deterministischer und nicht zufälliger Natur waren. Fanden sie global statt, waren sie somit vor lokalen Störungen geschützt. Mit dieser Prämisse stellt sich die Entstehung des Lebens als notwendige und nicht nur glückliche Folge von natürlichen Prozessen dar, die sich auch heute im Prinzip nachstellen lassen sollten. Essentiell für das Erreichen dieses Ziels ist jedoch die Synthese vieler Bereiche der Naturwissenschaften – wie Geologie, Geo-, Astro- und Biophysik, Chemie und Biologie.

Durch verfeinerte Analysemethoden und neue geologische Funde besteht beispielsweise Hoffnung, dass wir ein immer vollständigeres Bild der frühen Erde bekommen. Durch Gesteinsproben unseres Mondes wissen wir außerdem, dass die Erde in dieser frühen Zeit häufig von Meteoriteneinschlägen betroffen war. Die Analyse der sich noch immer in unserem Sonnensystem befindlichen Kometen, wie z. B. von 67P/Tschurjumow-Gerassimenko im Jahr 2014 durch die ESA Raumsonde Rosetta,2 gewährt uns Einblicke in die möglichen Ausgangsmaterialien einer chemischen Evolution. Zusammen mit den spektroskopischen Analysen von terrestrischen Meteoriten und interstellaren Eis-Nebeln, aus denen diese Kometen vermutlich ihre organischen Bestandteile erhalten, hat sich so ein erstes Bild der chemischen Umweltbedingungen der frühen Erde ergeben. Einfache Zucker, Aldehyde, Aminosäuren und viele andere wichtige Bestandteile der späteren Biosphäre kamen sogar recht häufig vor. Darüber hinaus benötigte die Entwicklung des uns bekannten Lebens natürlich auch flüssiges Wasser, dessen Existenz alles andere als selbstverständlich ist. Nur innerhalb der sogenannten Habitablen Zone um einen Stern herum ist es weder zu heiß noch zu kalt, so dass Wasser in flüssiger Form vorkommen kann. Man geht davon aus, dass sich dieses zum Teil in den äußeren Rändern des Sonnensystems bilden und mit Meteoriten auf die Erdoberfläche gelangen konnte.

Die weitere Forschung, die von hier ausgehend die Entwicklung des zentralen Dogmas klären soll, gleicht nun einem komplexen Puzzlespiel: Wie lassen sich die ersten Biopolymere aus den oben genannten, einfachen organischen Zutaten unter den Bedingungen der frühen Erde bilden? Und warum sollte das zentrale Dogma einfach so aus dem Nichts entstehen? Die zweite Frage ist durchaus gerechtfertigt, weil sich die verschiedenen Biopolymere im zentralen Dogma gegenseitig bedingen – Proteine vervielfältigen die DNS, welche den Bauplan der Proteine enthält. Eine mögliche Lösung dieses Henne-Ei-Problems ist das dritte beteiligte Biopolymer, die RNS. Diese kann nicht nur genetische Informationen enthalten, sondern sich ähnlich wie Proteine in katalytisch aktive Nanomaschinen falten. Es wurden beispielsweise bereits RNS-Moleküle gefunden, die in der Lage sind weitere RNS-Sequenzen zu vervielfältigen – eine wichtige Voraussetzung für einen evolutionären Prozess. Eine Arbeitsgruppe um den britischen Forscher Phil Holliger3 fand zudem kürzlich heraus, dass diese Nanomaschinen deutlich effizienter funktionieren, wenn sie durch Peptide (kurze Proteine) unterstützt werden. Dies deutet darauf hin, dass sich die ersten Prozesse von RNS in Richtung eines Reaktionsnetzwerkes zwischen RNS und Proteinen entwickeln konnten. Die Entstehung der ersten Polynukleotide wie RNS ist allerdings eines der großen Rätsel des Forschungsfeldes. Während die für sie benötigten Bestandteile auf der frühen Erde alle vorhanden waren, ist ihre Synthese ein schwieriger Vorgang. In Wasser ist sie extrem unwahrscheinlich – sowohl in chemischer Hinsicht als auch in physikalischer. Ähnlich zur Situation heute war die Konzentration der gelösten Reaktionsedukte auf der frühen Erde viel zu gering, als dass sich in größerem Maßstab Biopolymere ohne weitere Hilfe bilden konnten. Darüber hinaus ist nicht klar, wie diese nicht spontan ablaufenden Reaktionen angetrieben wurden.

Zeitliches Schaubild der vermutlichen Lebenssythese auf der Erde.
Vermuteter Ablauf der Lebenssynthese auf der Erde: Nach der Entstehung unseres Sonnensystems bildeten sich die ersten organischen Moleküle bzw. wurden durch Meteoriten auf die Erde transportiert. Verschiedene Nicht-Gleichgewichtsprozesse führten zur Synthese der ersten selbstreplizierenden Biopolymere (z. B. RNS) bis hin zur Entwicklung des zentralen Dogmas.

Reine Gleichgewichtsüberlegungen sind an diesem Punkt nicht mehr ausreichend, so dass nun auch chemische und physikalische Nichtgleichgewichtsprozesse berücksichtigt werden müssen. Diese können die Entstehung von reaktiven Mineralien erklären, welche die Bestandteile der RNS lokal aufkonzentrieren können und bei ihrer Aneinanderkettung zu einem RNS-Strang helfen. Auch die Nichtgleichgewichts-Thermodynamik bietet interessante Szenarien, in denen Wärmeflüsse eine große Rolle spielen. Fließt Wärme durch dünne mit Wasser gefüllte Gesteinsporen, können sich darin durch den entstehenden Temperaturunterschied Mikroreaktoren bilden, welche die Konzentration der enthaltenen Biomoleküle in Abhängigkeit ihrer Länge oder auch Sequenz stark erhöhen. Es wurde gezeigt, dass dieser Prozess auch die Aneinanderkettung von Biopolymeren sowie deren Vervielfältigung unterstützt haben könnte.4

Diese Fortschritte der Origin-of-life-Forschung in den letzten Jahrzehnten sind ein guter Startpunkt zur Erstellung einer vollständigen Plausibilitätskette, ausgehend von den ersten organischen Stoffen bis hin zur Entwicklung des heutigen Lebens. Die Frage nach unserem Ursprung beschäftigte schon viele Generationen an Forschern, aber erst jetzt bilden sich immer mehr Kooperationen über alle Teilgebiete der Naturwissenschaften. Auf dem Weg werden wir immer tiefere Einblicke in die Funktionsweise des Lebens und ein vollständigeres Bild über unseren Platz im Universum erhalten. Schon jetzt lässt sich dank der Kepler Mission5 der NASA abschätzen, dass ungefähr 20 Prozent aller sonnenähnlichen Sterne unserer Galaxie Planeten in einer habitablen Zone aufweisen – eine gewaltige Menge. Würde sich nun tatsächlich herausstellen, dass die Entwicklung von Leben ein derart stabiler Prozess ist wie angenommen, wäre Leben in unserer Galaxie wohl eher die Regel als die Ausnahme.


  1. Gerald F. Joyce et al., Origins of Life: The Central Concepts (Boston: Jones and Bartlett, 1994).
  2. Fred Goesmann et al., COMETARY SCIENCE. Organic compounds on comet 67P/Churyumov-Gerasimenko revealed by COSAC mass spectrometry in Science, Bd. 349 (New York: AAAS, 2015).
  3. Shunsuke Tagami et al., Simple peptides derived from the ribosomal core potentiate RNA polymerase ribozyme function in Nature Chemistry, Bd. 9 (London: Macmillan Publishers Ltd., 2017), 325–332.
  4. Moritz Kreysing et al., Heat flux across an open pore enables the continuous replication and selection of oligonucleotides towards increasing length in Nature Chemistry, Bd. 7 (London: Macmillan Publishers Ltd., 2015), 203–208.
  5. Michael Gillon et al., Seven temperate terrestrial planets around the nearby ultracool dwarf star TRAPPIST-1 in Nature, Bd. 542 (London: Macmillan Publishers Ltd., 2017), 456–460.

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