Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Synthese
fatum 6 | , S. 69
Inhalt

Menschentraube

Kurzgeschichte

Bitte nehmen Sie Platz! Mit wackligen Knien leistet Chris der strengen Aufforderung des Richters Folge. Scheu blickt er dabei auf die im Saal II des Waldhuter Gerichtssaals versammelten Zuhörer. Neben Frau Griesbacher, Uli und dem schnauzbärtigen Frank sitzt dort auch Ralf mit einem unpassenden Grinsen. Bei seinem Anblick überkommen Chris eindeutige Gefühle.

Dem Angeklagten Chris Hofmann werden folgende Straftaten zur Last gelegt …

Während der aberwitzig verkleidete Staatsanwalt die Liste der Chris vorgeworfenen Untaten monoton vorträgt, starrt dieser mit gesenktem Blick auf den Kugelschreiber in seiner Hand, auf dem das Wappen seiner kleinen Weinmanufaktur prangt. Noch ganz bildhaft stehen ihm die Szenen, die sich an jenem Abend abspielten, vor Augen und doch kommt es ihm eher so vor, als hätte er davon in einem spannenden Roman gelesen oder sie in einem Film gesehen. Würde er nicht heute hier sitzen, läge der Schluss nahe, dass die von den eintreffenden Beamten am Weinfest vorgefundene Situation tatsächlich einem anderen zugestoßen wäre. Die teilnahmslose Schilderung der bürokratisch umfassend protokollierten Details führt dazu, dass Chris sich in die frühen Stunden des damaligen Abends zurückversetzt fühlt.

Er stand in seinem Schankwagen. Zittrig nahm er seine Brille ab und massierte sich den feuchten Nasenrücken. Er kniff seine Augen zusammen und hoffte, damit die über den Sehnerv an sein Gehirn gemeldeten Eindrücke wie einen Niesreiz loswerden zu können. Gerade hatte er sich eingebildet, dass sich die zwar im ganzen Dorf als rüstig bekannte und respektierte, aber immerhin 92-jährige Frau

Griesbacher mit einem beherzten Satz auf einen der Biertische geschwungen hatte. Dort hüpfte sie jetzt von links auf rechts und schwang ihre Keramikhüfte zum fetzigen Rhythmus der aus dem naheliegenden Zelt des Musikvereins klingenden Blechmusik. Ihren Rollator der Marke Zebraschleicher hatten sich ohnehin die beiden Söhne des Winzers Uli Gerber geschnappt und verschwanden damit gerade um eine ferne Ecke. Frau Griesbachers zur Tanzbühne umfunktionierter Tisch drohte gerade einseitig die Bodenhaftung zu verlieren, als aus der umstehenden Menge ein fettwanstiger Herr aus dem Stand mit lautem Krach auf die Tischmitte sprang und die Konstruktion stabilisierte. Chris kannte den Mann zwar nicht persönlich, wusste aber, dass er bei der Feuerwehr ein hohes Amt bekleidete, wozu auch sein autoritärer Schnäuzer passte. Mit zunehmender Verwirrung und Panik blickte Chris auf die Schar, die sich um die Tische an seinem kleinen Weinstand versammelt hatte. Wohin sein Blick auch fiel, überall spielten sich ähnlich unnatürliche Szenen ab. Durch die ekstatische Masse brandete ein animalisches Johlen, das nur durch einzelne, verwunderterfreut gejauchzte Ausrufe durchbrochen wurde.

Wie in Zeitlupe setzte Chris seine Brille wieder auf, wohl wissend, dass an den umliegenden Buden keine derlei ausgelassene Stimmung herrschte – geschweige denn vergleichbare Wunderheilungen vonstattengingen. Ganz im Gegenteil, die ungehemmte Tanzwut seiner Gäste zog bereits argwöhnische Blicke der vorbeischlendernden Passanten auf sich. Mit plötzlich staubtrockener Kehle fiel sein Blick auf die Weingläser, die sowohl Frau Griesbacher als auch der korpulente Feuerwehrmann in die Höhe reckten. Auf beiden sowie auch auf jenen der übrigen Mitglieder der normalerweise eher gesetzten Festgesellschaft war Chris’ unverkennbares Firmenwappen zu sehen. Hastig goss er sich ein Glas aus dem fast leeren Fass des heute sehr beliebten Rieslings ein, roch vorsichtig daran und nahm einen kräftigen Schluck. Seichte Limette. Reife Passionsfrucht. Hauchdünne Honignote und ein rauzüchtiges Kribbeln im Abgang. Anders ausgedrückt: Völlig normal und wie erwartet. Was konnte es sein, das diese Zustände hier auslöste?

Ungläubig starrte er auf das Fass, aus dem er sich gerade eben die zwei Zentiliter abgefüllt hatte. Es hatte vier verzinkte Spannbänder. Zwei oben und zwei unten. Von all den Fässern in seinem Weinkeller gab es nur eine Hand voll mit dieser Anzahl an Bändern. Wie konnte ihm das erst jetzt auffallen? Er hätte darauf bestehen sollen, dass Ralf die Produkte seines Experiments getrennt lagerte. Es musste der ganze Stress der unter drohender Hagelgefahr durchgeführten diesjährigen Weinlese gewesen sein, die ihn bis zur letzten Stunde vor dem wichtigen alljährlichen Küssaberger Weinfest beschäftigt hatte. Während er das ohnehin fast leere Fass von Ralfs sonderbarem Riesling gegen ein normales mit zwei Spannbändern austauschte, beschlich ihn ein mulmiges Gefühl ob der Tatsache, gerade selber einen großen Schluck davon genommen zu haben. Für eine Weile verlor er dabei das Geschehen vor seinem Stand aus dem Blick. Als er sich schließlich wieder umwendete, konnte er sich seltsamerweise ein leichtes Zucken der Mundwinkel nicht verkneifen. Es war schon drollig, die sonst so ernsten Menschen derart ausgelassen herumhüpfen zu sehen. Der Versuch, sein Mundwinkelzucken zu unterdrücken und eine ernste Miene zu wahren, kostete ihn unglaubliche Anstrengung und schickte ihm kribbelige Schauer die Nervenbahnen hinauf und hinab. Wenig später bahnte sich ein ungehaltenes Lachen aus seiner Kehle. Er begann im Takt der plötzlich intensiv mit seinem inneren Rhythmus synchronisierten Musik Glas um Glas zu füllen und mit ungeahntem Verkaufstalent immer mehr Menschen um seinen Wagen zu versammeln. Alle schienen sich von ihrer besten Seite zu zeigen, mit mehreren vermeintlich Fremden führte er tiefe Gespräche und hatte den Eindruck, unerwartet brillante Offenbarungen und Perspektiven zu entdecken.

Beton-Wellenbrecher mit aufgemalten Gesichtern, Leute sitzen darauf
Wellenbrecher mit Gesichtern, © Carina Pilz

Erst in den frühen Morgenstunden, als Frank, der beleibte Feuerwehrmann sich unter Heulkrämpfen und mit weit aufgerissenen Augen im Schankwagen verkroch, während Chris damit beschäftigt war, einen Strauß unnatürlich bunten Löwenzahns für Frau Griesbacher zu pflücken, schaltete ein besorgt hinter den Gardinen hervorlugender Bewohner per anonymem Anruf die Staatsgewalt ein.

Der trockene Hammerschlag des Richters zur Eröffnung der Verhandlung holt Chris zurück in die Gegenwart des Saals II, in dem die Paragraphen des Betäubungsmittelgesetzes noch von den Wänden hallen.

Natürlich hätte Chris mehr nachbohren sollen, als sein relativ promovierter Neffe Ralf ihn bat, für das Abschlussprojekt seines Studiums einige Rebstöcke in bester Südhanglage nutzen zu dürfen. Ralf war ein eigenwilliger Kerl und stand gerade in den letzten Zügen seines Botanik-Diploms. Er behauptete, mit einer kürzlich entwickelten gentechnischen Methode dem Wein gänzlich neue Geschmacksrichtungen bescheren, sowie andere Eigenschaften wie Farbe, Alkoholgehalt und Schädlingsanfälligkeit beeinflussen zu können. Chris hatte nicht weiter nachgefragt, er kannte sich ja mit den wissenschaftlichen Details sowieso nicht aus. Er wollte Ralf einen Gefallen tun, da dieser ihm auch mit der Auswahl und Ausbringung des Düngers geholfen hatte. Trotz des Vertrauens war Chris mit Vorsicht an das Experiment herangegangen: Die von Ralf behandelten Pflanzen waren auf einem von den anderen isolierten Grundstück gewachsen und er hatte Vorkehrungen getroffen, um die Trauben sowie später den Wein nicht zu verwechseln. Prinzipiell war er auch mit Ralf einer Meinung gewesen, dass die Innovation in der Winzerbranche, die sich in letzter Zeit vornehmlich auf Flaschen- und Etikettengestaltung begrenzte, durchaus einen Anschub vertragen könnte.

Auf die Verlesung der Anklagepunkte folgt die Anhörung des gerichtlich bestellten Gutachters, einem angesehenen Universitätsprofessors. Der ältere Herr hält mit vor unverhohlener Begeisterung eifrig wedelndem Zeigestock einen Fachvortrag, in dem es von Strukturformeln, Reaktionszyklen und Prozessdiagrammen wimmelt. Chris kommt nicht umhin, die Dreistigkeit zu bewundern, mit der Ralf während des Vortrags Fragen stellt, als würde es sich um ein wissenschaftliches Seminar und nicht um eine Gerichtsverhandlung handeln. Als der Herr Professor zum Schluss kommt, fordert der Richter ihn nach einem Blick auf die Anwesenden auf, die Ergebnisse noch einmal für allgemeinverständlich zusammenzufassen.

Der Professor zeigt auf das projizierte Bild einer Weintraube, deren Beeren von innen blau zu leuchten scheinen. Die Trauben von Herrn Hofmann produzieren in Verbindung mit dem Holzfass im Gärstadium hochkonzentriertes Lysergsäurediethylamid, besser bekannt unter der Abkürzung LSD.

Chris kann nicht glauben, was er gerade gehört hat. Im Gerichtssaal bricht große Unruhe aus. Noch während der Richter nach seinem Hammer greift, springt Frank, dessen Schnäuzer sich kaum noch von seinem dunkelrot angelaufenen Gesicht abhebt, protestierend auf und ruft ungläubig ein langgezogenes DROOOOGEN?!. Frau Griesbacher, noch immer ohne Rollator, steht ebenfalls auf und verkündet, sie werde keine Anzeige erstatten. Endlich erhebt sich auch Ralf und verkündet, dass er als Urheber die Rechte an diesem Syntheseverfahren beansprucht.

Während sich das Gericht zur Beratung zurückzieht, werden Chris und Ralf durch pflichtbewusste Uniformierte von der aufgebrachten Menge sowie vom jeweils anderen abgeschirmt.


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