Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Synthese
fatum 6 | , S. 64
Inhalt

Die Tiefenhirnstimulation

Authentizität einer Mensch-Maschine-Synthese

Eine kleine Veränderung der Spannungsstärke sowie ein einfaches Umpolen der Sonden in meinem Kopf verbesserten innerhalb einer Sekunde den Zustand einer massiven Depression, unter der ich ein Jahr gelitten hatte. So faszinierend wie erschreckend war vor allem, dass die Depression von mir abfiel, so als sei ein eisernes Band um meine Seele gesprungen. Faszinierend war die Leichtigkeit dieses Vorgangs. Ein Knopfdruck, bestätigt durch ein kaum hörbares digitales Piepsen, unterstützt von einer winzigen Leuchtdiode, öffnete schlagartig den mir verhangenen Himmel. Freunde, die ich anrief, meinten, ich wäre frisch verliebt, so fröhlich muss ich geklungen haben.1

Von diesem bemerkenswerten Erlebnis berichtet Helmut Dubiel in seinem Buch Tief im Hirn, in dem er seine Erfahrungen mit der Tiefenhirnstimulation beschreibt. Im Folgenden werde ich kurz darlegen, was die Tiefenhirnstimulation ist, um anschließend der Frage nachzugehen, was es für die Authentizität der Betroffenen bedeutet, wenn sie durch diese Mensch-Maschine-Synthese die Möglichkeit erhalten, ihren psychischen und physischen Zustand per Knopfdruck grundlegend zu verändern.

Bei der Tiefenhirnstimulation werden Elektroden permanent ins Gehirn implantiert. Konkret bedeutet das, dass Drähte, an denen typischerweise vier Elektroden angebracht sind, über ein in die Schädeldecke gebohrtes Loch an spezifischen Stellen im Gehirn eingeführt werden. Diese Elektroden senden elektrische Impulse aus und beeinflussen damit die umliegenden Nervenzellen. Schon kleinste Verschiebungen in der Position der Elektroden können zu unterschiedlichsten Effekten auf die Psyche und den Körper des Patienten führen. Wie diese Technologie im Detail funktioniert, ist nicht genau geklärt. Es gibt Hinweise auf sowohl inhibitorische als auch anregende Einflüsse auf die umliegenden Nervenzellen.

Über ein unter der Haut verlaufendes Kabel sind die Drähte dann mit einem ebenfalls subkutan implantierten Impulsgenerator verbunden, der im Brustbereich eingesetzt wird. Mit dem Impulsgenerator lassen sich die Frequenz und die Stärke der Impulse auch nach der Operation über eine Fernbedienung anpassen oder das Gerät gänzlich abschalten. Es handelt sich also um eine reversible Technologie, da nach dem Abschalten des Gerätes auch dessen Effekte ausgesetzt sind.2

Die Tiefenhirnstimulation wird aktuell nur in sehr schweren Krankheitsfällen angewandt und auch nur, wenn alle anderen Behandlungsformen ausgeschöpft wurden. Trotzdem wurden weltweit bereits über 150.000 Tiefenhirnstimulatoren eingesetzt, davon etwa 6.000 in Deutschland. Die häufigste Anwendung findet die Tiefenhirnstimulation derzeit bei Parkinsonerkrankungen. Die mit dieser Krankheit einhergehenden Bewegungsstörungen können in vielen Fällen fast gänzlich aufgehoben werden. Neben anderen Krankheiten mit motorischen Symptomen, wie der Dystonie oder dem schweren Tremor, ist die Tiefenhirnstimulation in der EU auch für die Behandlung von Epilepsie und Zwangsstörungen zugelassen. Der Einsatz bei behandlungsresistenten Depressionen, dem Tourette-Syndrom, Alkoholabhängigkeit und Demenz befindet sich noch im experimentellen Stadium.3

Die Frage, wie sich die Tiefenhirnstimulation auf die Authentizität auswirkt, ist aufgrund verschiedener Besonderheiten dieser Technologie interessant:

Sie wirkt unmittelbar mit Einschalten des Geräts und kann auch genauso schnell wieder rückgängig gemacht oder durch Anpassen des Impulses verändert werden. Besonders die Möglichkeit, die Gefühlslage so plötzlich und so stark zu verändern, empfinden Betroffene wie auch Außenstehende oft als erschreckend. Für viele stellt sich damit die Frage, ob ihre Gefühle authentisch sind.

Die oft tiefgreifenden Veränderungen, die durch die Tiefenhirnstimulation hervorgerufen werden, erfordern keine Eigenleistung (im Vergleich zu einer Therapie) und werden durch eine vergleichsweise direkte und überschaubare Kausalkette hervorgerufen. Einerseits trägt dazu die zeitliche Nähe des Umlegens eines Schalters und der Veränderungen beim Patient bei, andererseits der vergleichsweise einfache Aufbau des Gerätes selbst – ein Draht mit Elektroden, die elektrische Impulse aussenden. Damit rückt die Frage nach der biologischen Determiniertheit von Stimmungen, der Persönlichkeit und unseren Wünschen in den Vordergrund.

Durch diese sehr direkte technische Beeinflussung der psychischen und körperlichen Zustände sowie der Möglichkeit, diese über eine Fernbedienung zu steuern, wird das Gehirn zu einem Teil einer technologischen Gesamtapparatur, die den direkten Einfluss auf die Gefühlslage erlaubt. Während das Gehirn und der Körper als manipulierbares Gegenüber distanziert betrachtet werden, wird das Selbst zu einem bloßen Produkt des neuronalen Implantats. Dieses durch die Tiefenhirnstimulation in den Vordergrund gerückte technisierte Menschenbild äußern auch die Patienten: I feel like a robot, I feel like an electronic doll.4

Mehrere Personen berichteten von einer Veränderung in ihrem Authentizitätsgefühl nach dem Einsetzen des Tiefenhirnstimulators. Einerseits empfinden sie ein Fremdheitsgefühl: „I don’t feel like myself any more“, „I haven’t found myself again after the operation“. Andererseits beschreiben Patienten, dass sie nach der Operation endlich wieder sie selbst sein können: During all these years I was asleep, now I take my life in hand, my life before PD.5

Röntgenbild eines Kopfes mit deutlich sichtbaren Elektroden am Schädel
Tiefe Hirnstimulation bei Morbus Parkinson, Röntgenaufnahme
Quelle: Hellerhoff, CC BY-SA 3.0: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Tiefe_Hirnstimulation_-_Sonden_RoeSchaedel_seitl.jpg

Um verstehen zu können, was die Tiefenhirnstimulation für die Authentizität bedeutet, muss zunächst das Konzept der Authentizität genauer untersucht werden. Betrachtet man die Genealogie des Begriffs lassen sich zwei grundlegende Ansätze ausmachen: Der Essentialismus und der Selbstkreationismus. Den Kern des essentialistischen Authentizitätsverständnisses bildet die Annahme, dass der Mensch über ein relativ fixes, gegebenes Inneres verfügt, das es zu erkennen und nach dem es zu leben gilt. Nach diesem wahren Selbst soll sich der Mensch auch dann richten, wenn ihm daraus Nachteile entstehen.

In der Entwicklung des essentialistischen Authentizitätsideals nimmt Jean-Jaques Rousseau eine zentrale Rolle ein. Für Rousseau ist der Mensch im Naturzustand gut, frei und authentisch. Die Gesellschaft hingegen korrumpiert den Menschen, versklavt und entfremdet ihn. Mit dem Ziel, den Menschen der Natur wieder näher zu bringen, kritisiert Rousseau nicht nur die Gesellschaft, sondern auch die Wissenschaft, die den Menschen aus der Natur herausgerissen hat. Reflexion und Abstraktion sowie gesellschaftliche Zwänge entfernen uns von unserem Innersten. Stattdessen müssen wir auf unsere Gefühle hören, die einen Zugang zum wahren Selbst ermöglichen. Seit Rousseau wurde das innere Selbst als kindlich, spontan und intuitiv beschrieben. Der rational denkende Erwachsene, der sozial vorgegebene Rollen spielt und standardisierte Denkmuster übernimmt, steht hingegen exemplarisch für Unauthentizität.6

Die Grundsteine zur zweiten Strömung in der Authentizitätsdebatte wurden von Kierkegaard, Nietzsche, Heidegger und Sartre gelegt. Das selbstkreationistische Authentizitätsideal der Existenzphilosophie widerspricht der Annahme, dass der Mensch eine vorgegebene Essenz hat – oder wie Sartre es ausdrückte: „L’existence precède l’essence“.7 Der Mensch tritt erst in die Welt, bevor er sich über seine Handlungen definiert. Authentizität bedeutet in diesem Fall die freie und stetige Kreation des Selbst. Die Freiheit der Selbstwahl ist dabei absolut – wir können auf nichts Vorgegebenes zurückgreifen. Natürlich sind wir auch mit Gegebenheiten konfrontiert, an denen wir nichts ändern können, wie dem eigenen Körperbau oder der Nationalität. Wir haben jedoch die Freiheit zu entscheiden, welche Bedeutung wir diesen Gegebenheiten zuschreiben.

Alte Aufnahme von Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir
Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir am Denkmal von Balzac
Quelle: Archives Gallimard Paris, Public Domain USA: https://en.wikipedia.org/wiki/Authenticity_in_art#/media/File:Sartre_and_de_Beauvoir_at_Balzac_Memorial.jpg

Die Abkopplung von der Gesellschaft spielt auch bei den Existentialisten eine zentrale Rolle. Jedoch ziehen viele Menschen vor, ihr Selbst durch die Gesellschaft oder das „Man“, wie Heidegger sich ausdrückte, bestimmen zu lassen, da ihnen die absolute Freiheit der Selbstkreation Angst bereitet. Der authentische Mensch hingegen überwindet die eigene Passivität, besitzt und kreiert sich selbst. Das Alltägliche oder das „Man“ wirken jedoch stets verlockend, weshalb wir ständig darum kämpfen müssen, nicht in die Unauthentizität abzudriften. Daher ist Authentizität in selbstkreationistischen Positionen meist einigen besonders starken Persönlichkeiten vorbehalten.8

Doch was bedeutet nun eine Technologie wie die Tiefenhirnstimulation für diese beiden Ansätze? Ein essentialistisches Authentizitätsverständnis steht der Tiefenhirnstimulation skeptisch gegenüber. Die Essenz, nach der wir leben sollen, wurde vor allem bei Rousseau als natürlich – fern von Gesellschaft und Technologie – festgelegt. Veränderungen des Selbst über externe, technische Mittel führen dementsprechend zu einer Entfremdung.

Des Weiteren ist diese Position bereits gegenüber den natürlichen Veränderungen, die wir im Verlaufe unseres Lebens durchmachen, sehr restriktiv. Das wahre Selbst ist zeitlich stabil. Es bietet jedem Menschen eine klare Richtlinie, nach der er sein Leben ausrichten soll und lässt dabei nur geringen Spielraum für abweichende Lebensentwürfe. Tritt eine tiefgreifende Veränderung der Persönlichkeit ein, muss entweder der momentane Zustand oder der Zustand vor der Veränderung als unauthentisch angesehen werden – dass beide gleichzeitig authentisch wären, würde der Annahme einer stabilen Essenz widersprechen.

In vielen essentialistischen Ansätzen wird zudem davon ausgegangen, dass wir gegenüber wichtigen Entscheidungen ein Gefühl des „nicht anders können“ empfinden. Würden wir diesem inneren Drang widerstehen, würden wir unser wahres Selbst verleugnen und damit in eine Identitätskrise stürzen. Mit der Tiefenhirnstimulation bietet sich nun zumindest prinzipiell die Möglichkeit diesen Drang zu umgehen, indem man über eine Fernbedienung zwischen zwei verschiedenen mentalen Zuständen wechseln kann. Die Einheit der Person, die über die Essenz aufrecht erhalten wird und die sich in einem Gefühl des „nicht anders können“ äußert, wird durch die Tiefenhirnstimulation aufgehoben, doch nicht zu Gunsten einer Ambivalenz die gegensätzliche Ansichten zeitlich parallel vereint, sondern der Fähigkeit zeitlich aufeinanderfolgend per Knopfdruck zwischen verschiedenen Ansichten zu wechseln.

Selbstkreationistische Positionen sind grundsätzlich eher positiv eingestellt gegenüber Eingriffen wie der Tiefenhirnstimulation, da sie dem Individuum möglichst große Freiheiten in der Selbstgestaltung zugestehen. Die Tiefenhirnstimulation bietet dem Menschen neue Möglichkeiten, sich zu entwerfen und sich von einschränkenden Krankheiten, wie Parkinson, Zwangsstörungen oder Depressionen, zu befreien. Gerade die heutige Verwendung der Tiefenhirnstimulation, die nur bei Patienten angewandt wird, die stark unter ihrer Krankheit leiden und die alle anderen Behandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft haben, hilft Menschen, denen ihre Krankheit nur noch wenig Handlungsspielraum bietet. Dazu trägt auch die Möglichkeit bei, das Gerät bei Bedarf auszuschalten, wenn beispielsweise etwaige Nebenwirkungen besonders stören.

Nach dem Selbstkreationistischen Authentizitätsmodell sind nicht nur tiefgreifende Veränderungen unproblematisch – auch der technische Ursprung dieser Veränderungen stellt keine Gefahr für die Authentizität dar. Einzig wenn die Veränderungen gegen den Willen des Betroffenen wären und er sie selbst als unauthentisch empfände, würde die Authentizität eingeschränkt werden. Doch die Tiefenhirnstimulation ist reversibel und das Gerät könnte in diesem Fall schlicht ausgeschaltet werden. Dabei muss jedoch beachtet werden, dass für viele Patienten die Krankheit als einschränkender empfunden wird als mit der Therapie einhergehende Nebenwirkungen und Persönlichkeitsveränderungen.

Die beiden diskutierten Bedeutungen von Authentizität lassen sich auch in der heutigen Verwendung des Begriffs ausmachen. Viele Menschen greifen nicht nur auf eine der beiden Ansichten zurück, sondern erachten je nach Frage andere Aspekte für relevant. Erik Parens hat dafür argumentiert, dass eine ambivalente Haltung gegenüber diesem Begriff durchaus sinnvoll ist.9 Die beiden Positionen entspringen vorrationalen Erfahrungen und Vorstellungen über unser Selbst und haben sich historisch parallel entwickelt. Unser Verständnis des Selbst ist keinesfalls homogen. Daher ist es verständlich, dass viele Menschen auch gegenüber dem Thema der Authentizität bei einer Tiefenhirnstimulation eine ambivalente Position einnehmen: Tiefenhirnstimulation als Mittel zur Selbstverwirklichung und Befreiung von einschränkenden Krankheiten oder als unnatürliche, uns von uns selbst entfremdende Technik, die uns eine andere Persönlichkeit aufzwingt. Wie diese Technologie und die damit einhergehenden Veränderungen von den Betroffenen selbst aufgefasst werden, hängt von der jeweiligen Situation, deren individuellem Selbstbild und ihrem eigenen Verständnis von Authentizität ab.


  1. Helmut Dubiel, Tief im Hirn (München: Kunstmann, 2006), 130.
  2. Paul Holtzheimer und Helen Mayberg, Deep Brain Stimulation for Psychiatric Disorders in Annual Review of Neuroscience 34 (2011), 290–292.
  3. Ibid., 292.
  4. Michael Schüpbach et al, Neurosurgery in Parkinson disease. A distressed mind in a repaired body? in Neurology 66(12) (2006), 1813.
  5. Ibid., 1812f.
  6. Jean-Jacques Rousseau, Emil oder über die Erziehung (Paderborn: Ferdinand Schöningh, 1971) und Jean-Jacques Rousseau, Die Bekenntnisse (Genf: Reclam, 1982).
  7. Jean-Paul Sartre, L’existentialisme est un humanisme (Paris: Nagel, 1970), 29.
  8. Martin Heidegger, Sein und Zeit (Tübingen: May Niemeyer Verlag, 1967).
  9. Erik Parens, Authenticity and Ambivalence: Toward Understanding the Enhancement Debate in The Hastings Center Report 35(3) (The Hastings Center, 2005), 34–41.

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