Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
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fatum 1 | , S. 47
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Grenz­fälle der recht­lichen Auf­arbeitung

Ist die Radbruch’sche Formel bei der juristischen Vergangenheitsbewältigung in der an den Werten des Grundgesetzes ausgerichteten Rechtsordnung der BRD entbehrlich?

Von der engen wechselseitigen Verzahnung von Recht und Gerechtigkeit zeugt nicht nur der gemeinsame Wortstamm beider Begriffe, sondern auch die Tatsache, dass der Gedanke der materiellen Gerechtigkeit vonseiten der Rechtswissenschaftler wie auch Philosophen regelmäßig als Wesensmerkmal des Rechts fruchtbar gemacht wurde, um den Begriff des Rechts zu bestimmen. So definierte bereits der im ersten und zweiten Jahrhundert n.Chr. lebende römische Jurist Celsus Recht als die Kunst des Guten und Gerechten (ius est ars boni et aequi1). Zu einer ähnlichen Begriffsbestimmung gelangte ebenfalls Thomas von Aquin.2

Allerdings dürfen diese Definitionsvorschläge nicht darüber hinwegtäuschen, dass Recht und Gerechtigkeit nicht schlichtweg miteinander gleichgesetzt werden dürfen. Im Laufe der menschlichen Zivilisationsgeschichte drifteten nämlich Recht und die in der Moral des Einzelnen verankerten Gerechtigkeitsvorstellungen Stück für Stück auseinander.3 Rechtsnormen indes zeichnen sich nach Max Weber gegenüber sonstigen nicht-rechtlichen Regelungsbereichen, wie beispielsweise der dem Gewissen des Einzelnen entspringenden Moral und der gesellschaftlich begründeten Sitte, dadurch aus, dass die Befolgung rechtlicher Vorschriften mithilfe staatlichen Zwangs, welcher sich als planmäßige Reaktion auf normwidriges Verhalten der Normunterworfenen darstellt, durchgesetzt werden kann.4 Rechtsvorschriften können somit als autoritativ gesetzte, staatlich erzwingbare und allgemeinverbindliche Sollensvorschriften zur Bewältigung von im sozialen Zusammenleben auftretenden Konfliktlagen charakterisiert werden.

Entsprechend der skizzierten Trennung von Recht und Moral geht der Rechtspositivismus davon aus, dass Recht ausschließlich durch seine allgemeinverbindliche und autoritative Setzung gekennzeichnet sei und eine Feststellung des Rechtscharakters von Normen ohne Rücksicht auf Gerechtigkeitsvorstellungen zu erfolgen habe.5 In der Positivität des Rechts erblicken Rechtspositivisten zugleich dessen Geltungsgrund.6 Erfasst sind nicht nur die vom Gesetzgeber geschaffenen Rechtsvorschriften, sondern auch das Richterrecht sowie das Gewohnheitsrecht.7 Eine unbedingte Pflicht zur Befolgung positiver Rechtssätze postuliert der Rechtspositivismus jedoch nicht, sodass dem Einzelnen die Möglichkeit verbleibt, sich über moralisch bedenkliche Rechtsnormen - allerdings unter Inkaufnahme rechtlicher Sanktionsmechanismen - hinwegzusetzen.8 In der präzisen Bestimmung des Rechtsbegriffs liegt ein Vorzug des rechtspositivistischen Ansatzes, durch den die praktische Tätigkeit des Rechtsanwenders erleichtert wird.9

Gleichwohl kommt das geltende positive Recht nicht vollkommen ohne Anknüpfungen an nicht-positivierte Maßstäbe aus, wie sich an dem in § 242 Bürgerliches Gesetzbuchs (BGB) ausgedrückten allgemeinen Rechtsprinzip von Treu und Glauben, wie auch an der in Art. 20 III Grundgesetz (GG) statuierten Bindung der Judikative und Exekutive an Gesetz und Recht ablesen lässt. Insbesondere aus der unter den Eindrücken der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft entstandenen grundgesetzlichen Norm ergibt sich, dass positive Gesetze und Recht nicht stets deckungsgleich zu sein brauchen, sondern auch voneinander derart abweichen können, dass Gesetze grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen widersprechen.10 Gemeint sind hiermit positive Rechtsnormen, die sich aufgrund ihres materiell-rechtlichen Regelungsgehalts eher als in Gesetzesform verhülltes Unrecht denn Recht darstellen.

Eben diesem Problem wandte sich der Rechtsprofessor und Politiker Gustav Radbruch (1878–1949) in dem 1946 erschienen Aufsatz „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“ zu. In der zur Lösung vorgeschlagenen Radbruch’schen Formel wird dazu Stellung genommen, ob und unter welchen Voraussetzungen staatlich gesetztes Recht seiner Rechtsgültigkeit aus Gerechtigkeitserwägungen heraus und zu Lasten der Rechtssicherheit verlustig gehen kann:

Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.11

Wie dieser Textpassage entnommen werden kann, spricht sich Radbruch für einen Mindestgrad inhaltlicher Korrektheit von staatlich gesetzten Rechtssätzen aus und differenziert zwischen drei verschiedenen Kategorien gesetzten Rechts. Zum einen gebe es materiell unrichtiges Recht, das der Gerechtigkeit lediglich in erträglichem Ausmaße widerspreche, sodass es als gesetztes Recht seine Gültigkeit beibehalte. Anders hingegen verhalte es sich bei unrichtigem Recht im Falle eines unerträglichen Widerspruchs zur Gerechtigkeit. Schließlich erwähnt Radbruch solche Rechtssätze, bei deren Erlass der Gesetzgeber Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt habe. In solchen Fällen könne nicht einmal mehr von Recht die Rede sein, erst recht seien die fraglichen Vorschriften folglich als ungültig anzusehen.

Von enormer praktischer Bedeutung erwies sich die Radbruch’sche Formel bei der juristischen Aufarbeitung der während der NS-Diktatur bzw. des DDR-Regimes begangenen Taten vor bundesdeutschen Gerichten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zur Anwendung gelangte die Radbruch’sche Formel beispielsweise in Fällen, in denen die Wirksamkeit der auf rassistischen Motiven beruhenden und durch nationalsozialistische Rechtssätze angeordneten Entziehung der deutschen Staatsangehörigkeit bei ausgewanderten Juden beurteilt werden musste.12

Die Problematik des gesetzlichen Unrechts wurde ebenfalls in den so genannten Mauerschützenprozessen aufgeworfen. Die bundesdeutschen Gerichte beschäftigten sich in diesen mit der strafrechtlichen Verantwortung der an der innerdeutschen Grenze postierten Grenzwachleute der DDR. Ihnen wurde zur Last gelegt, auf so genannte Republikflüchtlinge, also Personen, die die innerdeutsche Grenze in westlicher Richtung zu überqueren beabsichtigten, vorsätzlich tödliche Schüsse zur Unterbindung der entsprechenden Fluchtvorhaben abgegeben zu haben. Nach DDR-Recht erfüllten diejenigen, die das Territorium der DDR unbefugt verließen, den Straftatbestand des ungesetzlichen Grenzübertritts gemäß § 213 Strafgesetzbuch der DDR (DDR-StGB).

Um die Mauerschützenfälle rechtlich bewerten zu können, ist es unerlässlich, zunächst die einschlägige Rechtsordnung zu ermitteln. Laut § 2 I StGB und § 315 I Einführungsgesetz zum StGB (EGStGB) ist das zum Zeitpunkt der Abgabe der tödlichen Schüsse auf Republikflüchtlinge geltende Recht der DDR maßgeblich. Dass die Mauerschützen durch ihr Verhalten den Tatbestand der vorsätzlichen Tötung (§§ 112, 113 DDR-StGB) erfüllt haben, steht außer Frage. Allerdings bleibt zu erörtern, ob nicht etwa das Vorliegen von Rechtfertigungsgründen einer Strafbarkeit der Mauerschützen entgegensteht. Zur Rechtfertigung könnten § 27 II DDR-Grenzgesetz, das Volkspolizeigesetz sowie die vom Ministerium für Nationale Verteidigung aufgestellten Weisungen herangezogen werden. Hiernach durften Schusswaffen zur Verhinderung der unmittelbar bevorstehenden Ausführung oder Fortführung der Republikflucht eingesetzt werden. Infolgedessen müssten die Mauerschützen an sich aufgrund strikter Anwendung des einschlägigen positiven Rechts straffrei bleiben - ein angesichts des außergewöhnlich schwerwiegenden Schuldvorwurfs in den zugrunde liegenden Sachverhalten13 nicht hinnehmbares Ergebnis der blinden Rechtsanwendung.

In rechtsdogmatischer Hinsicht steht der Rechtsanwender nun vor dem Problem, ob und bejahendenfalls auf welche Art und Weise die dem DDR-Recht entspringenden Rechtfertigungsgründe, die zu einem Strafausschluss des per se strafwürdigen und strafbedürftigen Verhaltens führen, beseitigt werden können. Auszugehen ist davon, dass die Rechtsposition der Grenzsoldaten gerade nicht nachteilig durch das DDR-Grenzrecht betroffen ist. Ganz im Gegenteil: die Mauerschützen werden hinsichtlich ihrer strafrechtlichen Verantwortlichkeit auf Kosten der um Ausreise bemühten DDR-Bürger privilegiert. Im Kern geht es damit um die Annullierung eines höchst fragwürdigen, jedoch gesetzlich normierten Strafprivilegs.

Zu ihrer Verteidigung beriefen sich die Angeklagten auf den verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz nulla poena sine lege, wonach eine Strafbarkeit für bestimmte Verhaltensweisen nur aufgrund eines bereits vor der Begehung der entsprechenden Tat erlassenen Gesetzes angeordnet werden kann (Art. 103 II GG wie auch einfachgesetzlich § 1 StGB). Rückwirkende Gesetze, welche die Strafbarkeit des Täters nachträglich zu dessen Nachteil begründen bzw. verschärfen, sind somit im Ausgangspunkt unzulässig. Dieses fundamentale rechtsstaatliche Gebot dient dem Bürger als Grundlage dafür, sein Verhalten eigenverantwortlich so einzurichten, daß er eine Strafbarkeit vermeidet14. Um dem strafrechtlichen Rückwirkungsverbot gerecht zu werden, ist auch das Vertrauen in den Fortbestand gesetzlich geregelter Rechtfertigungsgründe, die bei Begehung der Tat zwar noch vorgelegen haben, später aber wegfielen, von der Verfassungsgarantie des Art. 103 II GG erfasst.15

Obgleich das Bundesverfassungsgericht in Art. 103 II GG ein absolutes Verbot rückwirkender Gesetze erblickt16, lässt es in den Mauerschützenprozessen eine Ausnahme hiervon zu: In dieser ganz besonderen Situation untersagt das Gebot materieller Gerechtigkeit […], die Anwendung eines solchen Rechtfertigungsgrundes. Der strikte Schutz von Vertrauen durch Art. 103 II GG muss dann zurücktreten.17 Gestützt wird dies auf die Radbruch’sche Formel und völkerrechtlich normierte Menschenrechte: […] ein solcher Rechtfertigungsgrund […] sei [nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs] wegen offensichtlichen, unerträglichen Verstoßes gegen elementare Gebote der Gerechtigkeit und gegen völkerrechtlich geschützte Menschenrechte unwirksam. […] [Laut dem Bundesgerichtshof seien] zu den wegen ihrer Unbestimmtheit schwer zu handhabenden Kriterien der Radbruch’schen Formel konkretere Prüfungsmaßstäbe hinzugekommen […] Diese Bewertung entspricht dem Grundgesetz.

Der Rückgriff auf überpositive Gerechtigkeitsvorstellungen und völkerrechtlich verbürgte Menschenrechte begegnet in mehrerlei Hinsicht rechtsstaatlichen Bedenken: Zum einen stellt diese Ausnahme einen Widerspruch zu der nahezu im gleichen Atemzug postulierten Absolutheit des Art. 103 II GG dar. Des Weiteren deutet das Bundesverfassungsgericht schon selbst an, dass die Radbruch’sche Formel den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 20 III GG) wohl kaum wird standhalten können. Nach welchem Maßstab soll ein Gericht bestimmen, ob ein Gesetz in einem unerträglichen Widerspruch zur Gerechtigkeit steht? Was bedeutet Gerechtigkeit in diesem Kontext? Ab wann ist ein unerträglicher Widerspruch erreicht? Und schließlich erscheint die Bezugnahme auf das Völkerrecht aus normhierarchischen Gründen verfehlt. Dies soll anhand des Art. 7 II der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), der eine Bestrafung trotz eines Verstoßes gegen den „nulla poena“ Grundsatz im Falle von Verbrechen gegen die Menschlichkeit für zulässig erklärt, erläutert werden. Obschon die genannte Vorschrift tatbestandlich einschlägig sein mag, so kann sie Art. 103 II GG, welcher Verfassungsrang genießt, dennoch nicht entgegengehalten werden. Dies liegt daran, dass die EMRK als völkerrechtlicher Vertrag lediglich den Rang eines einfaches Bundesgesetzes (Art. 59 II GG) innehat und folglich nicht zur Verdrängung des höherrangigen Verfassungsrechts geeignet ist.18

Vor dem Hintergrund dieser Einwände stellt sich die Frage, ob man nicht etwa auf den Rückgriff auf die Radbruch’sche Formel verzichten, aber dennoch zu demselben Ergebnis, nämlich der Aberkennung der Gültigkeit des Rechtfertigungsgrundes in den Mauerschützenprozessen, gelangen könnte. Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn sich das grundsätzliche Verbot rückwirkender Gesetze auf dem Bereich des Strafrechts nach Art. 103 II GG durch Heranziehung entgegenstehenden positiven Rechts einschränken ließe.

Art. 103 II GG ist von seinem Wortlaut her schrankenlos gewährleistet. Wie sich aus der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts ergibt, unterstreicht die Schrankenlosigkeit die herausgehobene Bedeutung des Rückwirkungsverbots. Ausgehend von dem Gedanken der Einheit der Verfassung scheint es aber angebracht, im Falle einer Kollision mit entgegenstehendem Verfassungsrecht von der Schrankenlosigkeit des Art. 103 II GG abzurücken, um im Wege eines schonenden Ausgleichs den kollidierenden Verfassungsgütern zu jeweils optimaler Wirksamkeit zu verhelfen. Dies entspricht der Vorgehensweise bei vom Wortlaut her ebenfalls vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten. Gründe, weswegen dies bei Art. 103 II GG nicht ebenso gelten sollte, sind nicht ersichtlich. Insbesondere sieht Art. 103 II GG keine Unantastbarkeit des Schutzes vor, wie dies bei Art. 1 I GG der Fall ist. In den Mauerschützenprozessen ist der Schutz des Lebensgrundrechts (Art. 2 II 1 GG) als kollidierendes Verfassungsgut in die Abwägung einzubeziehen. Ausgehend von der durch die Grundrechte aufgestellten objektiven Werteordnung könnte sich hier eine staatliche Schutzpflicht zugunsten des Lebensgrundrechts an sich als entgegenstehendes Verfassungsrecht auf den Vertrauensschutz einschränkend auswirken.

Aus der Übernahme der Strafrechtspflege auf dem Territorium der DDR durch die BRD kann aber nicht vorgebracht werden, dass die Gerichte der BRD, die den Fall nach DDR-Recht zu lösen hatten, sich ihrer grundgesetzlichen Verpflichtungen entledigt hätten. Auch in der besonderen Situation der Mauerschützenprozesse handelt es sich um die Ausübung von Strafgewalt durch die BRD, sodass die umfassende Bindung aller Staatsgewalt an die unmittelbar geltenden Grundrechte zu beachten ist, Art. 1 III GG.

In der Sache geht das Bundesverfassungsgericht ebenfalls von einer Abwägung zwischen dem in Art. 103 II GG garantierten Vertrauensschutz und Art. 2 II 1 GG aus: Denn ein solcher Rechtfertigungsgrund, der einer Durchsetzung des Verbots, die Grenze zu überschreiten, schlechthin Vorrang vor dem Lebensrecht von Menschen gibt, sei […] unwirksam.19

Bei der Abwägung muss zum einen die besondere Schwere der Beeinträchtigung des Lebensgrundrechts in Rechnung gestellt werden. Zum anderen ist die im konkreten Fall aufgrund der Evidenz des Unrechts eher gering zu veranschlagende Wertigkeit des Vertrauensschutzes nach Art. 103 II GG zu berücksichtigen. Im Ergebnis könnte daher argumentiert werden, dass sich der Lebensschutz gegenüber der Rechtssicherheit durchzusetzen habe. Zur Stützung dieses Resultats könnte die teleologische Kontrollüberlegung herangezogen werden, dass anderenfalls Art. 103 II GG, der gerade als Reaktion auf die willkürliche Staatsherrschaft des NS-Staates hin in das Grundgesetz aufgenommen worden ist20, nunmehr zur Aufrechterhaltung der Gesetze der Willkürherrschaft der DDR instrumentalisiert würde.

Ob aber die bundesdeutschen Gerichte die Befugnis zur Verwerfung von Normen, die vonseiten fremder Staatsgewalt erlassen worden sind, innehaben, erscheint bedenklich. Diese Frage bedarf jedoch keiner Klärung. Denn die bundesdeutschen Gerichte sind jedenfalls bei der Ausübung der Strafgewalt umfassend an die Grundrechte gebunden. Aus dem Lebensgrundrecht folgt aber, dass die bundesdeutschen Gerichte zur Anwendung der Rechtfertigungsgründe des DDR-Rechts nicht berechtigt sind, da anderenfalls eine Verletzung des Art. 2 II 1 GG vorliegen würde. Der Grundrechtsschutz gebietet sogar die Annahme einer gerichtlichen Pflicht zur Nichtanwendung.

Im Lichte der umfassenden Bindung aller staatlichen Gewalt an die Grundrechte, der Durchdringung der gesamten Rechtsordnung durch die Grundrechte, der unantastbaren Menschenwürdegarantie (Art. 1 I GG) und der Ausrichtung der grundgesetzlichen Ordnung an den Staatsstrukturprinzipien der Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Bundesstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit (Art. 20 GG, Art. 79 III GG) könnte demnach ein Rekurs auf überpositive Maßstäbe gar nicht erforderlich, ja sogar umständlich und entbehrlich erscheinen, wo doch schon das positive Recht gerechtigkeitsbezogen aufgebaut ist.

Könnte man nach alledem also tatsächlich die Anwendung der Radbruch’schen Formel in den Mauerschützenfällen für verzichtbar erklären?

Wohl kaum. Das liegt daran, dass eine allein an den Wertungen des bundesdeutschen Grundgesetzes vorgenommene Lösung an der den Mauerschützenfällen zugrunde liegenden Problematik vorbeischrammt. Woraus ergibt sich denn, dass ein bundesdeutsches Gericht in Fällen, in denen die Rechtsordnung der DDR das Verhalten der Mauerschützen als nicht strafbedürftig wertet und von einer Strafe absieht, nach dem Untergang der DDR nun eben doch gegenteilig entscheiden kann? Nimmt man auf die zuvor präsentierte Abwägungslösung Bezug, so kann aus dieser lediglich abgeleitet werden, weswegen der entscheidungserhebliche Rechtfertigungsgrund des DDR-Rechts von einem bundesdeutschen Gericht nicht angewendet werden darf. Es ist aber noch nicht beantwortet, ob es dem bundesdeutschen Gericht in einem solchen Fall überhaupt gestattet ist, eine Strafe zu verhängen.

Das eigentliche Problem der Mauerschützenfälle ist in der nachträglichen Bewertung strafrechtlich relevanten Verhaltens nach einem erfolgten Systemwechsel zu erblicken. In einem solchen Fall ist es zu kurz gedacht, zu einer Lösung durch den ausschließlichen Gebrauch der Normen des neuen Systems gelangen zu wollen. Das unvermeidliche Problem der Systemtransformation würde auf diesem Wege in unzulässiger Weise umgangen werden. Vor diesem Hintergrund scheint ein Rekurs auf universelle Gerechtigkeitsvorstellungen die überzeugendere Lösungsvariante darzustellen.


  1. Digesten 1.1.1. pr.
  2. Ius est ars qua cognoscitur quit sit iustum.
  3. Vgl. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie. Rechtstheorie. Rechtssoziologie (2006), S. 35.
  4. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1972),
  5. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie. Rechtstheorie. Rechtssoziologie (2006), S. 91.
  6. Zusätzlich wird auch auf die soziale Wirksamkeit des Rechts in der Gesellschaft abgestellt. Hiernach sei aber nicht erforderlich, dass das positive Recht in jedem Fall und zu jeder Zeit eingehalten werde. Die generelle Anerkennung der Verbindlichkeit des Rechts genüge schon. Vgl. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie. Rechtstheorie. Rechtssoziologie (2006), S. 99ff.
  7. Seelmann, Rechtsphilosophie (2010), § 2, Rn. 16.
  8. Kunz/Mona, Rechtsphilosophie. Rechtstheorie. Rechtssoziologie (2006), S. 37.
  9. Seelmann, Rechtsphilosophie (2010), § 2, Rn. 20.
  10. Vlg. zum Ganzen Herzog/Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz Kommentar (2013), Art. 20, Rn. 63ff.
  11. Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, 105ff. (107), abgedruckt in: Dreier/Paulson (Hrsg.), Gustav Radbruch. Rechtsphilosophie. Studienausgabe (2011), S. 216.
  12. Vgl. den 1. Leitsatz in BVerfGE 23, 98: Nationalsozialistischen ‚Rechts’vorschriften kann die Geltung als Recht abgesprochen werden, wenn sie fundamentalen Prinzipien der Gerechtigkeit so evident widersprechen, daß der Richter, der sie anwenden oder ihre Rechtsfolgen anerkennen wollte, Unrecht statt Recht sprechen würde.
  13. Mit konkreten Beispielen Dreier, JZ 1997, 421 (422).
  14. BVerfGE 95, 96 (131).
  15. BVerfGE 95, 96 (132).
  16. BVerfGE 95, 96 (131).
  17. BVerfGE 96, 96 (133).
  18. Vgl. Epping, Grundrechte (2012), Rn. 986; Herrmann, Examens-Repetitorium Europarecht. Staatsrecht III (2011), Rn. 57ff.
  19. BVerfGE 96, 96 (135).
  20. Epping, Grundrechte (2012), Rn. 972.

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